Übermässige Profitmaximierung?
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Der Landesindex der Konsumentenpreise (LIK), das gängige Mass zur Bestimmung der Inflation, lag im Juli hierzulande 1,6 Prozent über dem Vorjahresstand, nach 1,7 Prozent im Juni. Der Wert kam damit den zweiten Monat innerhalb des Bandes von 0 bis 2 Prozent zu liegen, welches von der Schweizerischen Nationalbank (SNB) mit Preisstabilität gleichgesetzt wird.
Trotz diesen erfreulichen Zeichen besteht nach wie vor das Risiko, dass sich die Inflation festsetzen könnte.
Noch keine Entwarnung
Ein häufig genannter Grund dafür ist die Möglichkeit einer «Lohn-Preis-Spirale», bei der sich Lohnerhöhungen und Preissteigerungen gegenseitig aufschaukeln.
Der Fachkräftemangel und die angespannte Arbeitsmarktlage erhöhen das Verhandlungspotenzial von Arbeitnehmenden. Neben einer möglichen Lohn-Preis-Spirale diskutieren Ökonomen, Zentralbanken und die Öffentlichkeit aktuell noch über einen anderen potenziellen Inflationstreiber: eine übermässige Profitmaximierung von einzelnen Firmen oder gar ganzen Branchen, oft «Greedflation» oder auch «Gewinn-Preis-Spirale» genannt.
Gemäss dieser Theorie nutzen Unternehmen die Preisanstiege bei Rohstoffen oder anderen Vorprodukten, um ihre Gewinnmarge auszuweiten, indem sie ihre Verkaufspreise stärker erhöhen, als es die Inputpreissteigerungen erfordert hätten. Dies führt zu weiterem Inflationsdruck an nachgelagerten Stellen in der Wertschöpfungskette und schliesslich bei den Konsumentenpreisen.
Untermauert wird die Theorie durch den deutlichen Anstieg der Gewinnmargen (d. h. dem Bruttobetriebsüberschuss pro Einheit Output), den man aus der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung ableiten kann, und seinen Beitrag zur Inflation, die in dieser Betrachtungsweise mit dem Deflator des Bruttoinlandprodukts (BIP) gemessen wird. In der Schweiz liegt der Deflator auf dem höchsten Stand seit den 90er-Jahren, wobei sowohl steigende Gewinne als auch höhere Löhne zu diesem Anstieg beitragen. Die Unternehmen absorbieren die gestiegenen Lohnkosten also nicht durch eine Reduktion der Margen, sondern geben die Kosten weiter, was die Inflation vom Rückgang abhält.
Euroraum drohen Inflationsspiralen
Dieses Phänomen ist besonders ausgeprägt in der Eurozone. Wie in der Schweiz blieb im Euroraum während der Pandemie das Lohnwachstum zunächst positiv, während die Unternehmensgewinne einbrachen.
Mit der Wiedereröffnung haben sich die Gewinne im Jahr 2021 erholt und sind wieder gewachsen, während das Lohnwachstum (pro Einheit Output) parallel abgenommen hat. Soweit folgt die Entwicklung dem historischen Muster. Doch dann hat der Inflationsschub nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine im Euroraum ein erneutes Anziehen der Unternehmensgewinne ausgelöst, das bis heute anhält.
Und wegen der hohen Inflation fordern Arbeitnehmer höhere Löhne, um ihren Kaufkraftverlust auszugleichen. Wenn der Trend steigender Gewinnmargen anhält, während es den Arbeitnehmern gelingt, höhere Löhne auszuhandeln, kann daraus eine «Gewinn-Preis-Spirale» entstehen und die Inflation noch länger unangenehm hoch halten.
Profitgetriebene Inflation in der Schweiz geringer
In der Schweiz ist diese Gefahr gering, der Anstieg der Löhne und der Gewinne flacht bereits ab.
Die vorteilhaftere Lage der Schweiz erklärt sich hauptsächlich durch den Umstand, dass die Inflation hierzulande insgesamt tiefer war und ist. Denn hohe Inflation wie in der Eurozone zieht hohe Inflation nach sich: es fällt Unternehmen offenbar leichter, Preissteigerungen durchzusetzen, weil Konsumenten diese bereitwilliger akzeptieren, wenn die Preise auf allen Seiten steigen.
Zudem haben die Unternehmen auch aus Gründen des Risikomanagements einen Anreiz, ihre Gewinnmargen auszuweiten und sich so gegen weitere erwartete Anstiege der Inputpreise abzusichern. Denn in einem Umfeld hoher und volatiler Inputpreisinflation schafft eine zusätzliche Preiserhöhung eine «Sicherheitsmarge», die es den Unternehmen ermöglicht, künftige Kostensteigerungen auszugleichen.
Keine Lohn-Preis-Spirale in der Schweiz
Angesichts deutlich niedrigerer Inflationsraten in der Schweiz fallen auch die Lohnforderungen hierzulande deutlich niedriger aus als im Euroraum – schliesslich ist der Reallohnverlust für die Arbeitnehmenden geringer.
Zudem besteht in der Schweiz offenbar eine generelle Lohnzurückhaltung. Dies zeigt ein Vergleich der vergangenen realen Lohnsteigerungen mit der Zunahme der Grenzproduktivität der Arbeit. Dabei wird deutlich, dass der Verteilungsspielraum für die Arbeitnehmer seit den 90er-Jahren nur selten vollständig ausgeschöpft wurde.
Die Beschäftigten scheinen in der Regel bereit, kurzfristig auf maximale Lohnerhöhungen zu verzichten, um das Risiko einer Erwerbslosigkeit zu reduzieren und den Wohlstand somit langfristig zu sichern.
SNB dürfte Zinsen nochmals erhöhen
Allerdings ist schwierig vorherzusehen, ob die systematische Lohnzurückhaltung auch bei anhaltender Arbeitskräfteknappheit Bestand haben wird.
Zudem wird die Inflation in der Schweiz trotz der bisherigen geldpolitischen Straffung gegen Ende des Jahres erneut ansteigen, allein schon wegen bereits angekündigten Preiserhöhungen beim öffentlichen Verkehr, den Strompreisen und nicht zuletzt den Mieten. Dies wird auch bei den diesjährigen Lohnverhandlungen eine Rolle spielen.
Um weiteren Zweitrundeneffekten bei der Inflation und möglichen Spiralen definitiv vorzubeugen, dürfte die SNB daher die Zinsen im September ein letztes Mal erhöhen.
Claude Maurer
Der ehemalige Profisportler (er hat die Schweiz an den Olympischen Spielen in Sydney im 49er-Skiff vertreten) ist Chefökonom Schweiz bei der Credit Suisse.