Risiken proaktiv managen - eine Illusion?
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Eine Pandemie stellt die Welt auf den Kopf, ein Krieg erschüttert, was wir in Europa für sicher hielten, im Suezkanal liegt ein Schiff quer – und das alles mit massiven Auswirkungen auf die Versorgungsketten. Preise und Verfügbarkeiten von Produkten und Vormaterialien sind kaum noch planbar.
In vielen Branchen arbeiten Projektgruppen an «Fire-Fighting-Massnahmen», um die Situation irgendwie zu steuern. Gleichzeitig wachsen die rechtlichen Anforderungen an Risikosteuerung, wie beispielsweise durch das Lieferkettengesetz in Deutschland bzw. in der EU oder der Konzernverantwortungsinitiative in der Schweiz.
Können wir Risikomanagement?
Von der Bedeutung von Risikomanagement muss man wohl niemanden mehr überzeugen. Es werden Massnahmen gesucht, um «vor die Welle» zu kommen und gleichzeitig fragt man sich, was «die nächste Welle» sein wird. Methodisch sauberes Vorgehen für ein strukturiertes Risikomanagement ist verfügbar und nahezu Standard geworden.
Doch wie gut sind wir Menschen eigentlich befähigt für diese Aufgabe? Menschen suchen und sehnen sich nach Sicherheit. Da ist doch Risikomanagement genau das richtige Werkzeug für uns – oder? Mathematik und ein ganzer Werkzeugkoffer an logischen und rationalen Instrumentarien helfen uns dabei – sollte man meinen!
Jedoch lauern gerade da, wo wir Ratio vermuten, die grössten Widersprüche. Risiken, und damit auch ihr Management, finden im Wesentlichen im Raum von Unsicherheiten statt und wir bedienen uns als eines der wichtigsten Werkzeuge dabei der Mathematik der Sicherheit.
Des Truthahns Illusion
Sie möchten ein Beispiel? Nehmen wir die Truthahn-Illusion, ein Gleichnis von Nassim Nicholas Taleb: Ein Mensch betritt das Truthahngehege und einer der Truthähne überlegt, ob der wohl etwas Gutes für ihn bringt oder vielmehr Gefahr. Der Mann füttert ihn und die anderen Truthähne und verlässt das Gehege wieder. So geht es auch am folgenden Tag und auch am Tag danach. Verlassen wir diese Geschichte hier und fragen uns, was würde der Truthahn nun tun, wenn er ein sauberes Risikomanagement aufsetzen könnte? Er würde vermutlich die Laplace´sche Regel nutzen. Angewendet auf die Frage, wie wahrscheinlich es ist, dass ein Ereignis so wie geschehen wieder eintritt, sagt diese Regel, die Wahrscheinlichkeit beträgt (n+1)/(n+2), wobei «n» die Häufigkeit ist, mit der das Ereignis bisher schon eingetreten ist. Nach dem ersten Mal beträgt die Wahrscheinlichkeit also 2/3, um schon beim zweiten Mal auf 3/4 zu steigen. Beim 100. Mal ist sie also 101/102, also über 99 Prozent.
Die Regel hat dabei den Schönheitsfehler, dass sie – in einem Akt heroischer Vereinfachung – alle verschiedenen, möglichen Ereignisse als grundsätzlich gleich wahrscheinlich annimmt; aber damit wollen wir uns nicht aufhalten. Der Truthahn wird sich also, in Kenntnis der Laplace´schen Regel, mit jeder Fütterung sicherer fühlen, dass es auch so weitergehen werde. Doch gehen wir zurück zu Talebs Geschichte: Was der Truthahn nicht wusste, war, dass am 101. Tag Thanksgiving war. Dieser Unwissenheit fiel er zum Opfer.
Genau wie wir Menschen hat auch er versucht, das Management von Risiken, die sich im Raum des Unsicheren bewegen, mit der Mathematik der Sicherheit zu beantworten, die davon ausgeht, dass sämtliche das Risiko beeinflussenden Parameter bekannt sind. Was meinen Sie, wie oft das im betrieblichen Risikomanagement zum Problem wird?
Die Heimat der Vernunft
Auf unser Gehirn wirken pro Sekunde zig Milliarden Informationseinheiten (Bites) ein. Rund 11 Millionen davon, also weniger als 0,1 Prozent, werden von unserem Gehirn verarbeitet, aber lediglich 40 bis 60 gelangen in unser Bewusstsein und sind damit willentlich verarbeitbar. Aus diesem verfügbaren Reservoir auf die Wahrheit zu schliessen oder gar zu glauben, man habe alle erforderlichen Infos zur Verfügung, wirkt da doch sehr verwegen.
Und wie steht es um unser Gehirn als Heimat der Vernunft und Abwägung? Bei neurowissenschaftlicher Betrachtung stellt sich diese, in unserer abendländischen Kultur der Aufklärung tief verwurzelte, Überzeugung als Mythos heraus.
Rationalität ist gar nicht die natürliche Aufgabe des Gehirns, sondern das Überleben von Individuum und Art. Aber bedarf es dafür nicht auch eines Umgangs mit Risiken? Definitiv ja! Nur ist dies im Wesentlichen ein reaktiver Umgang mit Risiken, in letzter Konsequenz zurückgeworfen auf den reinen «Fight-or-Flight-Modus». Das erklärt auch sehr gut, warum in der Theorie vorhandenes betriebliches Risikomanagement in der praktischen Umsetzung nur zu oft im ebenfalls reaktiven «Fire-Fighting» hängen bleibt.
Und selbst dort, wo wir a priori und systematisch handeln, steht uns der Mythos der grenzenlosen Rationalität im Weg. Dort, wo Risiken komplex sind, glauben wir, die Massnahmen müssten es auch sein. Mit dem Ergebnis, dass die entstehenden «Lösungen» immer weniger handhabbar werden, ohne dadurch wirkungsvoller zu sein.
Über Finanzmarktrisiken
Ein gutes Beispiel dafür ist der Versuch, die Risiken der Finanzmärkte über die Anforderungen an die Eigenkapitalquote der Banken zu reduzieren. Ein an und für sich sehr sinnvolles Bestreben. Doch hat man sich, als man realisieren musste, dass die Risiken der sehr komplexen Finanzmärkte mit Basel 1 nicht wie gewünscht gesteuert wurden, darauf verlegt, das System ebenfalls komplexer zu gestalten – Basel 2 entstand. Als auch dies nicht den gewünschten Erfolg brachte,
nannte man die nächste Komplexitätsstufe Basel 3. Kurz vor der Einführung von Basel 4 wird bereits an Basel 5 gearbeitet.
Ich wage an dieser Stelle drei Prognosen: Wir werden noch einige «Basels» erleben,
die Komplexität wird bei keinem Schritt geringer werden – und letztlich wird auch hierdurch das gewünschte Ergebnis nicht erreicht werden.
Christoph Krüger
Der Autor war viele Jahre Einkaufsleiter in zwei internationalen Konzernen. Heute arbeitet er als Unternehmensberater, Verhandlungstrainer und Coach. Er lebt bei Heidelberg und bildet Verhandler in Europa, Afrika und Asien aus.