Neustart: Beschaffung in der Ukraine

Neustart: Beschaffung in der Ukraine

Publiziert am Autor: Roger J. M. Hutter

Update vom 28. Oktober 2022: Ursprünglich lautete die Einleitung zu diesem Artikel so: «Sieben Monate nach der Invasion kehrt die Ukraine vorsichtig zur Normalität zurück. Die Landlogistik funktioniert, die Zulieferindustrie kann auf genügend Fachkräfte und Energie zurückgreifen.» Der Artikel schildert die Lage im September 2022. Denn noch vor einem Monat exportierte die Ukraine Energie in die EU. Das ist jetzt nicht mehr möglich. Inzwischen sind 40 Prozent der ukrainischen Energie-Infrastruktur zerstört.

Am 24. Februar 2022 begann die Invasion russischer Truppen in die Ukraine. Diese Eskalation des Russland-Ukraine-Konflikts veranlasste viele schweizerische Firmen mit Beschaffungsaktivitäten zu Massnahmen, um den Schaden so niedrig wie möglich zu halten. So wurde die Suche nach alternativen Beschaffungsmöglichkeiten (Double Sourcing) intensiviert. Gleichzeitig wurden die Lagerbestände, soweit das 
bei der angespannten Beschaffungssituation möglich war, aufgestockt. Jetzt, sieben Monate später, hat sich die Situation in der Ukraine verbessert und im westlichen Teil des Landes kehrt vorsichtig die Normalität zurück.

Die ersten zivilen Zerstörungsziele waren Brücken, Ölraffinerien und Strassen, um die Logistik zu unterbrechen. Diese russische Taktik hatte in der Anfangsphase erhebliche Auswirkungen: Der Bedarf an Treibstoff konnte nicht mehr ausreichend zur Verfügung gestellt werden, die Strassen rund um Kiew und weiter in den Osten waren unterbrochen. Dies und weitere Einflüsse führten dazu, dass viele Unternehmen ihre Beschaffungsaufträge abzogen oder die Tätigkeiten einstellten, obwohl sich der Standort nicht in den Kriegsgebieten befand. 

Landlogistik funktioniert wieder

Derzeit steht dank Importen wieder genügend Treibstoff zur Verfügung. Die Hauptverkehrsachsen (Strasse und Schiene) sind wieder freigegeben – wenn auch mit geringerer Transportkapazität als vor der Invasion. 

Der Landtransport wird auch die nächsten Monate die einzige Logistiklösung sein, da der zivile Luftverkehr in der Ukraine aus Sicherheitsgründen immer noch eingestellt ist und die Meerhäfen (mit Ausnahme des wackligen Abkommens für den Getreideexport) belagert sind. Selbst hochrangige Beamte aus der EU oder den USA müssen entweder mit dem Zug oder mit dem Auto durch ukrainisches Gebiet reisen. Nur Militärflugzeuge dürfen den ukrainischen Luftraum benutzen.

Starker Preisanstieg der Transporte

Ohne die Möglichkeit der Seelogistik konzentriert sich der Export auf die ukrainischen Grenzen im Westen. Darauf waren die Zollbehörden nicht vorbereitet. Aufgrund fehlender infrastruktureller und personeller Kapazitäten sind diese in der Zollabwicklung überlastet, was zu kilometerlangen  LKW-Kolonnen und Wartezeiten von bis zu sieben Tagen führt. Diese zusätzliche Vorlaufzeit sollte der Schweizer Einkäufer bei seiner Zeitplanung berücksichtigen.  

Die Frachtkosten haben sich auch in der Ukraine mehr als verdoppelt: Kostete ein LKW mit 33 EU-Paletten von Kiew in die Innerschweiz im Februar noch 1800 Euro, sind es heute beim gleichen Spediteur bereits über 4000 Euro. Die Kostentreiber sind wie überall die gestiegenen Treibstoffpreise. In der Ukraine sind diese noch höher, weil wegen der zerstörten Ölraffinerien der gesamte Bedarf aus der EU importiert werden muss. 

Zusätzlich ist die Nachfrage nach LKWs und nach Zügen grösser als das Angebot, was die Preise ansteigen lässt. Ansonsten funktioniert die Landlogistik wieder wie vor der Invasion der russischen Truppen.

Energieimporte in die EU

Vor den Kampfhandlungen erzeugte die Ukraine den Energiebedarf hauptsächlich in Kern- und Wärmekraftwerken. Das grösste Risiko im Energiesektor ist die Verfügbarkeit der Kohle, da diese im besetzten Osten der Ukraine abgebaut wird und über die Meerhäfen – die jetzt von den Russen belagert sind – importiert wurde. Derzeit ist das Land in der Lage, mehr Strom zu erzeugen als benötigt. Die Ukraine hilft der EU und strebt eine grössere Quote für den Stromexport an, obwohl dies im eigenen Land zu Problemen führen kann. Die Zulieferindustrie steht vor keinen nennenswerten Herausforderungen, Rohmaterialien für die Produktion sicherzustellen. Die Ukraine ist trotz dem zerstörten Metallwerk «Azovstal» immer noch einer der grössten Metall-Exporteure. 

Durch die belagerten Meerhäfen kann das Metall – da die Landlogistik keine Option darstellt – nicht exportiert werden, weshalb Metallwerke die Produktionsleistung herunterfahren. Solche Mass­nahmen wie auch durch den Krieg zerstörte Fabriken oder die Einstellung der Produktion lassen das BIP gegenüber dem Vorjahr um 35 Prozent sinken. 

Die offizielle Arbeitslosenquote wird mit 11 Prozent angegeben. Wir gehen von einem höheren Wert aus, da viele Ukrainer aufgrund fehlender Erwerbsmöglichkeit nicht in ihr Land zurückkehren. In der Ukraine herrscht, im Gegensatz zu Beschaffungsmärkten wie Polen, Tschechien, Slowakei, Rumänien oder Bulgarien kein Mangel an Fachkräften. Unter den Arbeitslosen finden sich Jung wie Alt beider Geschlechter, vom Angelernten  bis hin zum Akademiker.

Der US-Dollar wie auch der Euro sind als Währung in der Ukraine weit verbreitet. Die meisten Lieferanten akzeptieren auch den Schweizer Franken. Nur wenn der Lieferant die Rohstoffe in Euro kaufen muss, will dieser auch in Euro bezahlt werden, um doppelte Umrechnungskosten zu vermeiden.

Das bargeldlose SEPA-Zahlungssystem funktioniert, die ukrainischen Zulieferer können den Auftraggebern ohne Probleme das Geld überwiesen.  Bevor die SEPA-Zahlung angewiesen werden kann, muss der Zulieferer die Nachweise erbringen, dass der Begünstigte nicht russischer Nationalität ist beziehungsweise mit russischen Unternehmen kooperiert. Dieses ukrainische Gesetz ist seit Kriegsbeginn unbefristet in Kraft. Die nächsten Zahlungen an den gleichen Begünstigten erfolgen dann wie üblich, das heisst ohne dieses Prüfungsprozedere.

Gebiete werden sicherer

Solange sich die Ukraine in aktiven Kampfhandlungen gegen die russische Invasion befindet, werden die Produktionsaufträge nicht zurückkommen – obwohl das Land diese genau jetzt dringend für den Neustart braucht. 

Die Rückeroberung östlicher Gebiete wie Luhansk und Städten wie Charkiw unterstützt den Meinungsumschwung. Die öffentliche Meinung wandelt sich aufgrund dieser Erfolge von der Hoffnung in die Überzeugung, dass die Ukraine die russische Bedrohung zurückweisen kann. Das Gebiet von Kiew im Norden bis Odessa im Süden sehen wir als relativ sicher für geschäftliche Aktivitäten. Die Situation verändert sich laufend: So hat sich die Lage in Charkiw durch die militärischen Erfolge der Ukraine auf die Region deutlich verbessert.

Durch dieses neue Sicherheitsgefühl können die Lieferanten die gestoppte Produktion wieder aufnehmen, die Bestellungen abarbeiten und den Auftraggeber beliefern. Sofern die Auftraggeber das Vertrauen zurückgewonnen haben, um in der Ukraine wieder zu beschaffen.

Und ohne diese innere Überzeugung, in der Ukraine zu beschaffen oder direkt zu investieren, wird es keinen Neustart geben. 

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Roger J. M. Hutter

Der Autor ist Gründer der SwissCEE in Prag. Das Unternehmen realisierte als Total Service Provider multinationale CEE-Projekte für ABB, Bystronic, Dätwyler, EMS Group, Hamilton, Schindler, Pilatus, RUAG, SBB Cargo und ist langjähriger Kooperationspartner von procure.ch für Mittel- und Osteuropa.