Lieferketten aus dem Gleichgewicht

Lieferketten aus dem Gleichgewicht

Publiziert am Autor: Claus W. Gerberich, Veit Kohnhauser

Ausgewogenheit und Balance halten, sind wichtige Aufgaben der Beschaffung in volatilen Zeiten.

Unsere hochkomplexen, weltweiten Lieferketten sichern den Unternehmen niedrige Einkaufspreise. Sie sind aber auch intransparent, störanfällig, machen uns von anderen Staaten abhängig und sobald sie einmal aus dem Gleichgewicht sind, lassen sie sich nur schwer «reparieren».

Krisenmanagement ist in den letzten Jahren zu einer Kernkompetenz im Einkauf geworden. Zudem zwingen gesellschaftliche Entwicklungen in demokratischen Ländern die Gesetzgeber zu einer weiteren Verschärfung der Rahmenbedingungen. 

So führt die Bewältigung der Klimakrise zu einer Vielzahl neuer Gesetze, Verordnungen und Richtlinien. Das in Deutschland 2023 in Kraft tretende Lieferkettensorgfaltsgesetz (LkSG) zwingt Unternehmen dazu, die Einhaltung der 
Menschenrechte nicht nur bei ihren unmittelbaren Lieferanten, sondern in der gesamten Lieferkette sicherzustellen. Andernfalls drohen grösseren Unternehmen ab 400 Millionen Euro Jahresumsatz Strafen von bis zu 2 Prozent des Umsatzes. 
Die EU-Taxonomie-Verordnung legt fest, welche Investitionen und Technologien zukünftig als nachhaltig bewertet werden und welche nicht. 

Mittels einer Hinweisgeber-Verordnung sollen Verstösse gegen Gesetze und Compliance-Richtlinien anonym gemeldet werden. Und ein ESG-Rating bewertet Unternehmen bezüglich messbarer Verbesserungen im Bereich Umwelt, Soziales und Governance von Finanzinstitutionen. Die EU Sustainable Finance Strategy stellt sicher, dass beim einem schlechteren Rating die Finanzierungskosten für Unternehmen steigen.

Neue Entscheidungsträger

Das Thema der Nachhaltigkeit wird damit konsequent von den Marketing- und PR-Abteilungen der Unternehmen in die Finanz-, Rechts-, Einkaufs- und auch Supply-Chain-Management-Abteilungen verlagert. Dort sitzen die wahren Entscheidungsträger. Allerdings – was den Einkauf betrifft – zunehmend alleine, denn dessen Arbeitsbelastung steigt seit Jahren. Steigende Rohstoffpreise, Lieferantenausfälle und entgangene Umsätze aufgrund nicht verfügbarer Materialien – Stichwort Chipkrise – sind zum beruflichen Alltag geworden. 

Der allgemeine Fachkräftemangel, die zunehmende Digitalisierung und das über Jahre betriebene Outsourcing von Einkaufsaktivitäten tun ihr Übriges dazu. Also: Zeit zum Umdenken.

Einkauf bekommt mehr Verantwortung

Für den Einkauf bedeutet das enorme Herausforderungen, denn sowohl die CO2-Bilanz der Produkte als auch die Einhaltung sozialer Mindeststandards im gesamten Liefernetzwerk, bei gleichzeitiger Sicherstellung der Materialverfügbarkeit zu günstigsten Preisen werden durch die jeweilige Sourcing-Strategie ganz wesentlich beeinflusst. 

Berücksichtigt man dann noch, dass Lieferketten robuster gegen Krisen und Störungen werden müssen, dann wird rasch klar, es braucht neue Lösungsansätze. Der Einkauf muss und wird seinen Beitrag dazu leisten, Lieferketten resilienter und nachhaltiger zu gestalten. 

Die Frage «Was bewirkt meine Einkaufsentscheidung?» im eigenen Unternehmen, aber auch für die Gesellschaft als Ganzes wird immer mehr in den Vordergrund rücken. 

Angesichts mangelnder Rohstoffe, steigender Material- und Transportpreise und zunehmender politischer Interventionen wie Strafzölle und Wirtschaftssanktionen wird die Circular Supply Chain in den nächsten Jahren massiv an Bedeutung gewinnen. 

Es gilt also, sich so rasch wie möglich  vom traditionellen, linearen Denken in Lieferketten zu verabschieden. Es geht vielmehr darum, einmal gewonnene und bereits importierte Rohstoffe und Produkte möglichst lange und auch mehrfach zu nutzen – und sie wenn notwendig wiederaufzubereiten. Wenn all diese Möglichkeiten ausgeschöpft sind, geht es darum, wertvolle Materialien zu recyceln, und zwar idealerweise so, dass kein Down-grading der Rohstoffe stattfindet. 

Zusätzliche sekundäre Quellen 

Es wird künftig neben den primären auch zusätzliche Sekundärquellen für Rohstoffe und Materialien geben müssen. Die Bedarfs- und Kapazitätsplanung der meisten Unternehmen ist dafür heute aber nicht ausgelegt. 

Wenn Rohstoffe in einem Unternehmen zum Beispiel als Abfallprodukte bei der Produktion gewonnen werden, dann ist dieses Unternehmen nicht primär ein Rohstofflieferant. Es plant und handelt also nach ganz anderen Überlegungen. 
Die Qualität von wiederverwendeten Rohstoffen ist dabei neben der ausreichenden und verlässlichen Verfügbarkeit eine Schlüsselfrage. Kann der Lieferant von Sekundärmaterial eine gleichbleibend hohe Qualität wirklich sicherstellen? 
Das führt dazu, dass neue Player in der Lieferkette eine wesentliche Rolle übernehmen. Ersatzteillieferanten, Reparatur- und Instandhaltungsunternehmen und Recyclingbetriebe – die heute eher eine untergeordnete Rolle für die Hersteller spielen - werden zu wesentlichen Partnern in den Curricular Supply Chains von morgen. 

Make-or-Buy-Entscheidungen werden nun auch vermehrt Downstream – also zwischen Herstellern und Kunden – anzutreffen sein. Damit müssen aber auch die bisherigen Geschäftsmodelle, die vielfach beim Point of Sale enden, kritisch hinterfragt werden.

Strategische Lösungsansätze

Das wirtschaftliche Wachstum vom dafür notwendigen Ressourceneinsatz zu entkoppeln, ist eine der wesentlichen Herausforderungen der Zukunft. Die Besteuerung der Co2-Äquivalente und der Emissionsrechtehandel sind erste politische Massnahmen in diese Richtung. 

Für den Einkauf bedeutet das: In Zukunft geht es neben den reinen Rohstoff- und Materialpreisen auch um die Kosten des Carbon-Footprints, berechnet in Form von CO2-Äquivalenten. Viele Einkäufer und Lieferanten sind heute aber nicht in der Lage, diese CO2-Daten exakt zu ermitteln. Wer seine CO2-Werte aber nicht exakt kennt, muss diese konservativ  schätzen und zahlt damit unweigerlich mehr, als er eigentlich müsste. 

Die Digitalisierung der Einkaufs- und Beschaffungsprozesse muss also vorangetrieben werden. Wer diese Kosten künftig vermeiden will, muss Primärdaten zum «Scope 3» des «Greenhouse Gas Protocol»    vorlegen können – sonst wird es teuer. Der Gefahr der Abwanderung von Produktion ins Ausland wird dabei mittels eines CO2-Grenzsteuersatzes begegnet, der ähnlich einem Einfuhrzoll die Wettbewerbssicherheit gewährleisten soll.

Zunehmender Protektionismus, hohe CO2-Belastungen bei Global Sourcing und mangelnde Resilienz von komplexen Lieferketten führen unweigerlich zu deren Verkürzung. 

Der Einkauf ist gut beraten, all diese Faktoren in die Entscheidungsprozesse bei der künftigen Lieferantenauswahl genauso konsequent und hart zu berücksichtigen wie Preise und Lieferverfügbarkeit. 

Conclusio

Wir müssen erkennen, dass der Einkauf nicht nur eine unternehmerische, sondern auch eine gesellschaftliche Verantwortung trägt. Die Auswahlkriterien geeigneter Lieferanten werden vielfältiger und nicht alle Faktoren lassen sich ohne weiteres auch monetär bewerten. 

Risiko- und Szenarioanalysen werden stärker in die Entscheidungsfindung einfliessen. Die Digitalisierung spielt dabei die Schlüsselrolle, wenn es darum geht, eine Transparenz über die eigenen Wertschöpfungsnetzwerke zu erlangen. 
Es zeigt sich bereits heute, dass nicht die effiziente Inhouse-Produktion, sondern vielmehr die Leistungsfähigkeit des gesamten Netzwerks über den Erfolg des Unternehmens entscheiden. Und dieser Trend wird sich in den nächsten Jahren sicherlich noch weiter verstärken.  

Claus W. Geberich

Der Autor ist Professor an der Hochschule Luzern (HSLU). Der Maschinen-bau-Ingenieur und Betriebs-wirtschafter promovierte am MIT und hat jahrelange Führungserfahrung in der Industrie. 

Veit Kohnhauser

Der promovierte Wirtschaftsingenieur für Maschinenbau war lange für BMW tätig. Zuletzt verantwortete er die weltweite Entwicklungs- und Produktionsstrategie aller Motoren und Fahrwerkskomponenten. Seit 2012 leitet er den Fachbereich Logistik und Operations Management an der Fachhochschule Salzburg. 

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