Leere Kassen trotz voller Auftragsbücher
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Meist tönt es so: «Zurzeit nicht – oder nur mit zeitlicher Verzögerung und einem hohen Aufpreis – lieferbar.» Solche Antworten erhalten aktuell viele Unternehmen, wenn sie für ihre Produktion benötigte Materialien und Vorprodukte ordern möchten.
Wie angespannt die Lieferkapazitäten in vielen Branchen seit Monaten sind, verdeutlichen vom IFO-Institut veröffentlichte Zahlen. Ihnen zufolge klagen in der DACH-Region zurzeit 70 Prozent der Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes über Liefer-Engpässe, die ihre Produktion behindern. Am stärksten betroffen ist die Autoindustrie (91,5 Prozent), gefolgt vom Maschinenbau (80 Prozent). Auch bei den Herstellern elektronischer Produkte klagen vier von fünf über Lieferprobleme.
Dabei bleibt unklar, welche Unternehmen hiermit konkret gemeint sind. Denn Sensoren und Chips werden heute in fast allen technischen Geräten verbaut. Deshalb heisst es zurzeit auch oft bei Waschmaschinen, Rasierapparaten und E-Bikes «nicht lieferbar». Ähnliches gilt für zahlreiche Konsum- und Gebrauchsgüter wie Sneakers, Wanderschuhe, Adventskalender und Christbaumkugeln – weshalb viele Handelsunternehmen bereits um ihr Weihnachtsgeschäft bangen.
Fragiler als geplant
Dass ihre Lieferketten sich als so fragil erweisen könnten, hätten bis zum Ausbruch der Coronapandemie viele Unternehmen nie gedacht. Doch dann kam das Virus und führte zu einem weltweiten Einbruch der Industrienachfrage. Also reduzierten auch viele Hersteller von Vorprodukten ihre Produktionskapazitäten. Diese fehlen nun, da die Weltwirtschaft auch aufgrund vieler staatlicher Konjunkturprogramme unerwartet schnell wieder Fahrt aufgenommen hat. Mit der Folge, dass eine starke Nachfrage auf verringerte Produktionskapazitäten bei den Vorprodukten und Förderkapazitäten bei den Rohstoffen trifft.
Hinzu kommt: Im Gefolge der Pandemie ist auch der weltweite Gütertransport noch gestört. Zudem fallen aufgrund von Quarantäneverordnungen in Asien, speziell China, immer wieder Produktionsanlagen und Häfen aus. Dies verschärft die Logistikprobleme und lässt die Transportpreise steigen. Zudem versuchen viele Unternehmen, wegen der anhaltenden Unsicherheit ihre Lagerbestände mit Vorprodukten wieder auf- und auszubauen. Auch dies verschärft die Güterknappheit und schafft Lieferengpässe.
Maximen auf dem Prüfstand
Aufgrund dieser für sie neuen Erfahrung überdenken viele Unternehmen zurzeit ihr Beschaffungsmanagement. Betrieben nicht wenige von ihnen vor Corona im Einkauf ein Global Sourcing gemäss der Maxime «Gekauft wird, wo es am billigsten ist», so spielen nun bei ihren Einkaufsentscheidungen neben dem Preis und der Produktqualität zunehmend auch Faktoren wie die Liefersicherheit eine wichtige Rolle.
Aktuell denken denn zahlreiche Unternehmen, die bisher Verfechter einer Just-in-time-Produktion und -Bevorratung waren, darüber nach, ihre Lagerbestände wieder
zu erhöhen. Andere erwägen, wieder mehr Komponenten selbst herzustellen und bei der Beschaffung verstärkt auf standortnahe Lieferanten zu setzen. Zudem überdenken nicht wenige Unternehmen ihre bisherige Strategie, aus Kostengründen und administrativen Gründen die Zahl ihrer Lieferanten zu minimieren. Stattdessen erwägen sie, für wichtige Vorprodukte, die sie bisher von einem Lieferanten bezogen, einen Zweit- und Drittlieferanten an Bord zu holen, um ihre Abhängigkeit von einzelnen Lieferanten zu verringern.
Digital oder analog?
Für Unternehmen, die einen Lieferantenwechsel erwägen oder deren Zahl erhöhen möchten, erwächst hieraus folgende Herausforderung: Sie müssen sich zunächst eine Übersicht verschaffen, wer potenzieller Lieferant sein könnte, und diese Lieferanten anschliessend bewerten, damit sie eine qualifizierte Auswahl treffen können.
Dieser Prozess erfordert viel Zeit. Dies ist gerade für kleine und mittlere Unternehmen ohne grosse Einkaufsabteilung oft ein Problem. Dieses kann häufig mit digitalen Lieferanten-auditierungsverfahren gelindert werden, bei denen die Unternehmen mittels eines Onlinefragebogens bei den potenziellen Lieferanten zunächst abfragen, inwieweit diese ihre Lieferanforderungen erfüllen. Im Idealfall können sie sich so binnen weniger Stunden einen ersten Überblick verschaffen, welche Anbieter «heisse Kandidaten» sind, und diese Infos für ihre Lieferantenauswahl und Vertragsverhandlungen nutzen.
Solche Softwareprogramme sind jedoch nur ein Hilfsmittel, um die Vorauswahl der Lieferanten zu systematisieren und zu vereinfachen. Steht die konkrete Entscheidung an, ob wir mit dem Lieferanten A oder B kooperieren, ist es gerade bei strategisch relevanten Vorprodukten und Materialen wichtig, auch die Organisation des Lieferanten kennenzulernen – um dessen Selbstaussagen zu bewerten, denn: «Papier ist geduldig.» Zudem gilt es im Vorfeld die strategische Relevanz der einzelnen Produkte und Leistungen angemessen zu bestimmen, um zu den richtigen Selektionskriterien zu gelangen und diese adäquat zu gewichten, denn die letzten Monate haben gezeigt, wie schnell schon das Fehlen von Kleinteilen wie Dichtungen, Sensoren und Klemmen die gesamte Produktion lahmlegen kann.
Ein persönliches Kennenlernen des Anbieters und seiner Organisation ist speziell dann wichtig, wenn es um die Auswahl von Lieferanten und Dienstleistern geht, mit denen das Unternehmen und seine Mitarbeitenden im Leistungserbringungsprozess fast täglich zusammenarbeiten müssen. Dann muss auch «die Chemie» stimmen, und inwieweit dies der Fall ist, erfährt man nur im persönlichen Kontakt.
Alban Maier
Alban Maier ist geschäftsführender Partner der auf Lean Management spezialisierten Unternehmensberatung Assention AG mit Sitz im schwyzerischen Pfäffikon. Diese unterstützt produzierende Unternehmen unter anderem beim Analysieren, Optimieren und Neugestalten ihrer Geschäftsprozesse.