Konsum stützt Wachstum
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Das Bruttoinlandprodukt (BIP) der Schweiz ist im zweiten Quartal 2022 gegenüber dem Vorquartal um 0,3 Prozent gestiegen, und damit exakt gleich stark wie im Vorquartal (1. Quartal 2022: + 0,3 Prozent). Die Erholung dauerte offenbar trotz des Krieges in der Ukraine und stark gestiegener Energiepreise weiter an.
Die positive Dynamik geht vor allem auf die Aufhebung der Massnahmen gegen das Corona-Virus im vergangenen April 2022 zurück. Am stärksten zu verzeichnen war das Wachstum denn auch im Gastgewerbe, im Transportwesen sowie im Bereich «Kunst, Unterhaltung und Erholung».
In anderen Branchen wie beispielsweise der chemisch-pharmazeutischen Industrie oder dem Detailhandel, die während der Pandemie stark expandierten, nahm die Wertschöpfung demgegenüber ab.
Konsum bleibt robust
Die positive Konsumdynamik dürfte sich in den kommenden Monaten fortsetzen. Der Einkaufsmanagerindex (PMI) für den Dienstleistungssektor, der die Entwicklung bei den konsumorientierten Dienstleistungen misst, notiert weiterhin in der Wachstumszone.
Dank Vollbeschäftigung ist die Erwerbssituation der Haushalte trotz verbreiteter Konjunktursorgen nach wie vor gut – und Erstere ist in der Regel entscheidend für den Konsum. Darüber hinaus vermag die gestiegene Inflation die Kaufkraft hierzulande insgesamt nicht zu schmälern.
Dank des hohen Beschäftigungswachstums und der Verschiebung hin zu besser bezahlten Stellen hat die Summe der ausbezahlten Löhne im ersten Halbjahr 2022 nämlich eine Zunahme von 6,3 Prozent verzeichnet, die über der Inflation (2,5 Prozent) lag. Zudem hat sich die Zuwanderung jüngst wieder beschleunigt. Die Zuwanderung ist ein wichtiger Treiber des privaten Konsums, war doch im Durchschnitt der vergangenen Jahre deutlich mehr als ein Viertel des Konsumwachstums darauf zurückzuführen.
Weil die Zuwanderung jeweils steigt, wenn das Wirtschaftswachstum in Europa tiefer ist als in der Schweiz, ist davon auszugehen, dass sich der Trend zu wieder höheren Immigrationszahlen fortsetzen wird.
Energiepreise belasten die Industrie
Die Schweiz ist für die aktuelle Energiekrise weniger anfällig als ihre europäischen Nachbarn. Erdgas wird hierzulande nicht für die Stromerzeugung verwendet, und auch bei der Nutzung für Industrieprozesse ist es weniger wichtig als beispielsweise in Deutschland.
Die Schweiz ist jedoch bei Weitem nicht gefeit gegen Preisanstiege und Rationierungen von Energieträgern. Wir gehen in unserer Prognose davon aus, dass Rationierungen dank der aufgegleisten oder geplanten Massnahmen der öffentlichen Hand und dank der Agilität der Unternehmen vermieden werden können.
Angesichts der höheren Energiepreise scheint es uns hingegen wahrscheinlich, dass Betriebe in besonders energieintensiven Sektoren wie der Metall- und Chemieindustrie ihre Produktion freiwillig einstellen werden, weil sich Letztere nicht länger rentiert.
Da aber ein Teil der zu erwartenden Ausfälle über Kurzarbeitsentschädigungen gedeckt werden dürfte, sollten sich die negativen Effekte solcher Unterbrüche auf den Konsum als Ganzes in Grenzen halten.
Konsum nicht übermässig gebremst
Derweil schlagen die hohen Grossmarktpreise für Öl, Gas und Strom aufgrund der Preisregulierung und des starken Frankens sowie einer geringen Bedeutung der Energie am Haushaltsbudget nur abgeschwächt auf die Ausgaben der Schweizer Haushalte durch. Die Teuerung bleibt daher deutlich tiefer als im Ausland.
Gleichzeitig ist das Risiko einer Lohn-Preis-Spirale hierzulande gering. Die Inflationsrate wird gemäss unseren Prognosen zwar bis Ende Jahr auf über 3,0 Prozent verharren, danach aber wieder langsam auf Werte sinken, die mit Preisstabilität gleichzusetzen sind (Prognose 2023: 1,5 Prozent).
Die bremsende Wirkung der Inflation auf die Konsumdynamik hält sich laut unseren Analysen der Preiselastizitäten der Konsumnachfrage zudem generell in Grenzen. Ein Anstieg der Inflationsrate um einen Prozentpunkt reduziert den privaten Konsum im Durchschnitt um lediglich 0,11 bis 0,13 Prozent (je nach Schätzungsmethode).
Insgesamt sollte sich die positive Konsumdynamik somit auch 2023 fortsetzen. Auch der Staatskonsum dürfte das Wirtschaftswachstum weiterhin stützen, wobei unter anderem die Ausgaben zur Verhinderung einer Strommangellage die Ausgaben ausserplanmässig erhöhen.
Exportdynamik leidet unter Rezession
Deutlich eingetrübt hat sich demgegenüber der Ausblick für die Industrie. Der PMI für die Industrie in der Schweiz signalisiert im Gegensatz zu seinem Pendant für die Eurozone zwar nach wie vor keine Kontraktion, die erwartete Rezession in der Eurozone wird aber auch die Schweizer Exporte belasten, ist doch die Europäische Union unser wichtigster Handelspartner (rund die Hälfte aller Exporte geht in die EU). Insbesondere die Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie sowie die Chemiebranche müssen mit einer geringeren Nachfrage auch aus dem Ausland rechnen.
Demgegenüber sind die Pharmaexporte kurzfristig unelastisch gegenüber Veränderungen der Wirtschaft in der EU.
Das Währungspaar Euro/Schweizer Franken wird gemäss unseren Prognosen unter der Parität bleiben.
Dank der deutlich tieferen Inflation hierzulande kommt die Exportindustrie jedoch vergleichsweise gut mit dem aktuellen Wechselkurs zurecht, mindern doch die geringeren Kostensteigerungen den preislichen Wettbewerbsnachteil.
Eingetrübte Wachstumsaussichten
Insgesamt rechnen wir damit, dass die Schweiz ein Abgleiten in eine Rezession vermeiden kann. Die Wachstumsaussichten für das kommende Jahr haben sich jedoch auch hierzulande sukzessive eingetrübt.
Wenn eine Energiemangellage abgewendet werden kann, sollte das Schweizer Bruttoinlandprodukt 2023 aber dennoch um 1 Prozent steigen.
Claude Maurer
Der ehemalige Profisportler (er hat die Schweiz an den Olympischen Spielen in Sydney im 49er-Skiff vertreten) ist Chefökonom Schweiz bei der Credit Suisse.