Gehirn 4.0: Wie wir die Kraft der Konzentration wiederfinden

Gehirn 4.0: Wie wir die Kraft der Konzentration wiederfinden

Publiziert am Autor: Marco Freiherr von Münchhausen

Die Digitalisierung um uns beschleunigt exponentiell – immer mehr Informationen werden immer schneller verarbeitet und vermittelt. Digitalisierung 4.0 ist das Schlagwort, sie macht vor keinem Lebensbereich halt. Auch unser Gehirn kann ähnlich stark beschleunigen ...

Digitalisierung ist an sich eine tolle Sache – sie erleichtert in vielen Bereichen des täglichen Lebens die Arbeit ganz erheblich, schafft Verknüpfungen dort, wo wir nie gesucht hätten.

Aber es gibt auch eine Schattenseite, denn die digitale Revolution hat grosse Auswirkungen auf unsere Denk- und Konzentrationsfähigkeit: Wir werden ständig unterbrochen und können uns immer schlechter konzentrieren. Der Verlust der Konzentration und die ständigen Unterbrechungen sind in den letzten Jahren zum Hauptproblem der Arbeitswelt, möglicherweise des modernen Menschen überhaupt geworden. Abgesehen von einigen Berufsgruppen – etwa Chirurgen, die gar keine andere Möglichkeit haben, als stundenlang ungestört arbeiten zu können – ist für die meisten von uns konzentrierte Arbeit die Ausnahme geworden. Doch nur wer genug Aufmerksamkeit aufbringt, kann Höchstleistungen erreichen. Konzentration führt zu Wohlbefinden – es ist angenehm, in einer Arbeit aufzugehen – und lädt unsere Energiereserven auf. Konzentrationsphasen stabilisieren die Persönlichkeit. Umso gefährlicher, dass unsere Konzentration unter Dauerbeschuss steht.

Ununterbrochen unterbrochen

Schon der Grundzustand des Gehirns ist nicht der der Konzentration. Unsere Gedanken sind ständig auf der Suche nach Neuem, und die Aufmerksamkeit richtet sich immer wieder auf den nächsten interessanten Reiz. Dieses sogenannte Mind-Wandering wird durch die Reizüberflutung der digitalen Medien gefördert.

Auf allen Kanälen prasseln ständig wechselnde Informationen auf uns ein. Je grösser die Informationsfülle, desto geringer wird unsere Aufmerksamkeit. Eine neue Unterbrechungslogik ist entstanden durch die digitalen Kommunikationsmedien: Wir bleiben ständig erreichbar und werden dementsprechend «ununterbrochen unterbrochen». Über die vergangenen zehn Jahre hat sich dieser Zustand von einem persönlichen Problem zu einem omnipräsenten Störfaktor ausgedehnt. Das kostet nicht nur Nerven, sondern auch Geld – allein in den USA büsst die Volkswirtschaft fast 600 Milliarden US-Dollar pro Jahr dadurch ein.

Unterbrechungen kommen übrigens nicht nur von aussen. Der Mensch neigt dazu, gedanklich abzudriften – es reicht schon ein Urlaubsfoto, und wir sind ganz woanders. So kommt es, dass wir trotz Hektik und dauerhaftem Arbeitseinsatz unseren Tages-, Wochen- und Monatszielen häufig hinterherhinken.

Illusion Multitasking

Es fühlt sich vielleicht an, als würden Sie besonders viel leisten, wenn Sie binnen Sekunden auf jede eingehende E-Mail antworten – doch im Schnitt dauert es nach einer solchen Unterbrechung fast eine halbe Stunde, bis man sich wieder voll und ganz der ursprünglichen Aufgabe zuwenden kann. Den Konzentrationsmodus zu erreichen, kostet das Gehirn viel Aufwand. Wird es einmal herausgerissen, fängt es wieder bei null an. Paradox: Untersuchungen haben gezeigt, dass selbst sogenannte weiche Drogen weniger leistungshemmend wirken als regelmässige Unterbrechungen – was jetzt natürlich keine Aufforderung zum Drogenkonsum darstellen soll.

Multitasking gehört für viele zum Alltag, gilt häufig sogar als wichtige Kompetenz. Leider ist es eine Illusion. Unser Gehirn ist zwar in der Lage, zwischen zwei Aufgaben hin- und herzuspringen. An zwei Aufgaben wirklich gleichzeitig arbeiten können die meisten von uns aber nicht.
Bei automatisierten Handlungen mag es so aussehen, als ob Multitasking möglich ist.

Natürlich kann man gleichzeitig joggen und Musik hören oder Auto fahren und telefonieren. Sobald aber beide Sachen dauerhaft unsere Aufmerksamkeit benötigen, stossen wir an unsere Grenzen – im Strassenverkehr ist das die Situation, in der es zu Unfällen kommt. Ständiges Multitasking ist deshalb ineffektiv und anstrengend, es reduziert die Konzentrationsfähigkeit und die Kreativität, beeinträchtigt das Erinnerungsvermögen und kann auf Dauer sogar krank machen. Trotzdem verspüren wir geradezu einen Drang, uns dem nächstbesten Reiz zuzuwenden. Das liegt an der Funktionsweise des Gehirns, das jede Neuentdeckung mit einer Dopaminausschüttung belohnt. In einer Zeit, in der es Unmengen potenzieller Neuigkeiten gibt, werden wir sehr schnell süchtig danach. Wir verlieren die Fähigkeit, uns auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren und dabei bei uns zu sein. Fokussierte Gesprächsführung, tiefes Lesen, Aufgehen in einem Musikstück – all das geht mehr und mehr verloren.

Konzentration ist machbar

Aber wie funktioniert Konzentration eigentlich? Manchmal stellt sich Konzentration von selbst ein: Man bleibt bei einem Film hängen, sieht ihn sich gebannt bis zum Ende an, und im Nu sind zwei Stunden vergangen. Manchmal packt uns also ein Reiz, und die Konzentration ist plötzlich vorhanden. Nun sind viele unserer täglichen Aufgaben aber leider nicht so attraktiv wie ein guter Spielfilm.

Konzentration aktiv zu erzeugen, bedeutet, die Aufmerksamkeit kontrolliert auf etwas zu lenken. Und das ist auch gleich die gute Nachricht: Konzentration ist machbar! Drei Voraussetzungen gilt es zu beachten: Es braucht eine klare Aufgabe, die herausfordert, ohne zu überfordern, und
eine Abschirmung von Störungen.

Definieren Sie deshalb zunächst eine klare Aufgabe, verbunden mit einer festen Zielsetzung – das wirkt wie ein Magnet für Ihre Aufmerksamkeit. Am Vormittag zwischendurch ein wenig Kundenpflege zu betreiben, ist ein netter Vorsatz – den Ihr innerer Schweinehund allerdings ziemlich schnell verspeist hat. Aber: Morgen zwischen 11 und 12 Uhr sechs definierte Kunden anzurufen – das ist ein Aufmerksamkeitsmagnet. Allerdings können nur einigermassen attraktive Aufgaben diese Wirkung entfalten. Der Schwierigkeitsgrad darf weder zu hoch (denn dann geraten wir in Stress) noch zu niedrig liegen (denn dann wird es langweilig und das Gehirn sucht neue interessante Aufgaben).

Die Kunst der Abschirmung

Die dritte Voraussetzung für Konzentration ist heutzutage die wichtigste: Es geht darum, möglichst sämtliche Störungen und ablenkenden Reize auszuschliessen, und zwar die äusseren (Kommunikationsmittel und Kollegen, um nur mal die wichtigsten zu nennen) genauso wie die inneren (Sorgen, Ängste, Tagträume). Natürlich nicht für immer und grundsätzlich nur eine Zeit lang. Das Positive ist, dass wir Störungen nicht hilflos ausgeliefert sind. Wir können ihnen, häufig mit relativ einfachen Mitteln, begegnen.

Senken Sie zunächst einmal den Lärmpegel in der Umgebung, räumen sie Störenfriede wie To-do-Listen von Ihrem Schreibtisch und schützen Sie Ihr Gehirn vor den üblichen Unterbrechungen: Schalten Sie das Handy ab und überlegen Sie, das Telefon umzuleiten. Checken Sie keine E-Mails. Auch wenn heute eine Art Zwang zur schnellen Beantwortung zu herrschen scheint: Für die meisten Menschen reicht es völlig, alle zwei Stunden im Posteingang nachzusehen. Und in zwei Stunden konzentrierter Arbeit können Sie eine ganze Menge erledigen.

Schaffen Sie sich also immer wieder Zeitinseln, in denen Sie ungestört arbeiten können.

Genauso wichtig ist es, auch die inneren Störenfriede abzuschalten. Besonders unerledigte Projekte drängen ständig ins Bewusstsein. Schreiben Sie solche Angelegenheiten nieder und befreien Sie sich dadurch temporär von Ihnen. Hilfreich können auch einfache Entspannungsübungen sein.

Stress zerstört Konzentration

In Gefahrensituationen gibt es nur zwei Strategien: kämpfen oder weglaufen. In beiden Fällen unterstützt uns das Adrenalin, das der Körper ausschüttet, sobald das Stammhirn eine Gefahr meldet. In diesem Moment sind wir hoch konzentriert. Was in Gefahrensituationen das Überleben sichert, kann sich im Alltag zum Problem entwickeln. Denn Adrenalin ermöglicht zwar ein hohes Mass an Fokussierung, aber es handelt sich um eine Art Konzentration mit Tunnelblick – nicht gerade die Art, die wir für den Arbeitsalltag benötigen.

Weil sich Stress und Konzentration auf Dauer nur schlecht vertragen, ist aktives Stressmanagement sinnvoll: Sport und Bewegung helfen, den Adrenalinspiegel zu senken. Spezielle Entspannungsmusik oder auch bestimmte Musikstücke aus der klassischen Musik helfen mittels Erzeugung sogenannter Alpha-Wellen im Gehirn gegen Stress. Und dann noch ein Tipp für beinahe jede Situation: Lächeln Sie einfach mal! Was banal klingt, ist psychologisch wirkungsvoll. Eine Minute Lächeln wirkt sich positiv auf Ihre Stimmung aus und reduziert Stress, selbst wenn Ihnen überhaupt nicht nach Lächeln zumute ist.

Pausen fördern Konzentration

Stundenlang konzentriert durchzuarbeiten ist kaum möglich, die Konzentration erschlafft wie ein Muskel. Nach etwa 50 Minuten hoch konzentrierter Arbeit ist es deshalb Zeit für eine Pause, etwa einen Spaziergang. Vielleicht finden Sie auch einen anderen Weg der schnellen, kurzen Entspannung. Wichtig ist dabei, dass Sie von der Haupttätigkeit abgelenkt werden, ohne auf lästige Nebentätigkeiten umzuschalten oder an unfertige andere Projekte erinnert zu werden. Lassen Sie also den Posteingang lieber zu – und die Social-Media-Accounts sollten Sie in solchen konzentrationsfördernden Pausen auch lieber beiseitelassen.

Konzentriert kommunizieren

Beim Telefonieren rasch etwas im Internet erledigen? Oder beim Spielen mit dem Kind kurz zum Telefon greifen? Solche Nebentätigkeiten kennen wir alle. Viele Menschen können auf Anhieb nicht beantworten, was sie im Moment eigentlich wirklich machen und worauf genau sie den Grossteil ihrer Aufmerksamkeit gerade richten. Telefonieren am Steuer ist ein gutes Beispiel. Nicht von ungefähr werden dadurch so viele Unfälle verursacht: Entweder man ist voll ins Gespräch vertieft und vergisst, auf den Verkehr zu achten, oder das Gespräch geht an einem vorbei.

Wichtig für gelungene Kommunikation: Schalten Sie bei wichtigen Gesprächen unbedingt das Handy auf stumm, checken Sie nicht jede eingehende Nachricht. Es geht darum, dem Gesprächspartner die ungeteilte Aufmerksamkeit zukommen zu lassen – und nicht nur eine Art Teilaufmerksamkeit. Im besten Fall wirkt die eigene Kommunikationsdisziplin sogar ansteckend auf andere.

Neue Medien meistern

Die neuen Medien haben erheblichen Einfluss auf das Konzentrationsvermögen. Wir wechseln ständig zwischen realer und virtueller Welt und holen uns über Likes und Co.ununterbrochen kleine Gratisglücksmomente. Dieses Verhalten schwächt beispielsweise die Lesekompetenz von Schülern. Es gibt aber auch positive Effekte. So lässt sich für manche Computerspiele nachweisen, dass sie die räumliche Wahrnehmung und visuelle Aufmerksamkeit der Spieler verbessern und ihnen helfen, Informationen schneller aufzunehmen.

Es wird kaum möglich und für die meisten auch nicht erstrebenswert sein, auf die Errungenschaften der neuen Medien verzichten, aber wir sollten lernen, sie wieder zu beherrschen und nicht umgekehrt von ihnen beherrscht zu werden.

Wer die von den neuen Medien ausgehenden Gefahren für das Konzentrationsvermögen kennt, hat schon den ersten wichtigen Schritt getan. Als nächster Schritt folgt die bewusste Nutzung. Liefern Sie sich nicht widerstandslos dem Smartphone aus, sondern entscheiden Sie wieder souverän, wann Sie zum Handy greifen und wann nicht. Legen Sie sich temporäre Beschränkungen auf. Machen Sie für 30 Minuten oder eine Stunde pro Tag Ihren Arbeitsplatz zur medienfreien Zone. Im Urlaub können Sie umgekehrt die Mediennutzung auf eine halbe Stunde pro Tag beschränken. Vielleicht bietet sich eine digitale Abstinenzkur an. Und ein kleiner Alltagstipp: Lesen Sie die Uhrzeit auf einer analogen Armbanduhr ab statt auf dem Display des Smartphones. Auf dem bewährten Ziffernblatt wartet kein Webbrowser und es poppen keine Nachrichten auf.

Marco Freiherr von Münchhausen

Der Autor studierte Jura, Psychologie und Kommunikationswissenschaften. Heute hält der gefragte und mehrfach ausgezeichnete Redner und Coach europaweit Vorträge und Seminare zu den Themen Work-Life-Balance, Selbstmotivation, Selbstmanagement im Alltag und Aktivierung persönlicher Ressourcen.