Eisberg 4.0? Wie die Digitalisierung den Einkauf verändert

Eisberg 4.0? Wie die Digitalisierung den Einkauf verändert

Publiziert am Autor: Herbert Ruile, Carsten Vollrath

Industrie 4.0 ist bedeutendster Treiber neuer Produkte und Prozesse, und viele Unternehmen stehen vor einer Transformation ihrer Geschäftsmodelle. Der Arbeitskreis Einkauf 4.0 identifiziert Chancen und Aufgaben für den Einkauf der Zukunft.

Industrie 4.0 beziehungsweise das Internet der Dinge ist gerade dabei, ganze Industriearchitekturen und traditionelle Geschäftsmodelle auf den Kopf zu stellen. Diese in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren bevorstehende Transformation betrifft das gesamte Wirtschaftssystem. Und es ist kaum vorstellbar, dass davon der Einkauf nicht tangiert wird, wenn selbst traditionelle Bereiche wie die Landwirtschaft oder der Bergbau davon betroffen sind.

Erst die Eisbergspitze?

Wir nehmen erst die Spitzen eines Eisberges wahr, von dem wir annehmen, dass diese Änderungen unser bisheriges Verständnis darüber, wie wir Konkurrenzfähigkeit erzeugen und wie wir die Zusammenarbeit gestalten, radikal verändern wird.
Der Einfluss von Industrie 4.0 auf den Einkauf wird aber kontrovers diskutiert und ist mit Hoffnungen, Erwartungen, Vorbehalten und Unsicherheiten befrachtet. Führungskräfte im Einkauf steigen vermehrt in die Diskussion ein, um sich ein  Bild über ihren Einkauf der Zukunft zu machen und unter Experten zu diskutieren.

Arbeitskreis Einkauf 4.0

Der Arbeitskreis Einkauf 4.0 gründet auf einer gemeinsamen Initiative von procure.ch, dem Verein Netzwerk Logistik (VNL) und der Innovative Partners Group, um den Einkauf in der digitalen Transformation zu begleiten und Antworten auf die Zukunftsbilder des Einkaufs zu geben. In der Schweiz haben sich bereits 18 Firmen am Arbeitskreis beteiligt und erarbeiten gemeinsam Lösungsansätze zur Transformation des Einkaufs in den Bereichen Prozesse, Technologie, Berufsbild und Organisation.
Im Rahmen der Zukunftsbilder des Einkaufs wurden drei Szenarien entwickelt, die sich hinsichtlich ihres Transformations- und Entwicklungsbedarfs stufenweise unterscheiden.

Szenario 1: automatisierter Einkauf

In diesem Szenario bleiben die Geschäftsmodelle im weitesten Sinne bestehen. Sie fühlen sich mit ihren Produkten und Leistungen weniger einem dynamischen Umfeld ausgesetzt. Die Chancen der Digitalisierung werden in der erweiterten Automatisierung und Vernetzung der betrieblichen und überbetrieblichen Prozesse gesehen (im Einkauf unter anderem SRM, e-procure-solution). Der Transformationsbedarf des Einkaufs ist insgesamt hoch, aber geringer als im Szenario 2 und 3. Zielsetzung ist, eine höhere Effizienz in den Beschaffungsprozessen zu erzielen. Die Aufgaben des strategischen Einkaufs verbleiben im Rahmen des klassischen Warengruppenmanagements. Der Einkauf ist Objekt der Digitalisierung.

Szenario 2: intelligenter Einkauf

Auch im Szenario 2 bleiben die Geschäftsprozesse weitgehend stabil erhalten. Die Unternehmen sehen jedoch bereits deutliche Anzeichen einer dynamischen Veränderung durch die Möglichkeiten der digitalen Technologien. Der Einkauf entwickelt seine Aufgaben und seine Verantwortung zu einem Business Service. Er sieht in der Digitalisierung eine Möglichkeit, sich stärker intern und extern zu vernetzen.  
Durch vertieftes Informationsmanagement können vermehrt datenbasierte Services für das Unternehmen angeboten werden. Voraussetzung dafür sind Stammdatenqualitäten, die Vernetzung von internen und externen Daten sowie die Anwendung von Big Data Analytics. Der Einkauf als Datenanalytiker kann hier Mehr-wert in der Produktentwicklung, imRisikomanagement und im Wertschöpfungsdesign leisten. Die neue Funktion des Datenanalytikers wird als unterstützende Funktion des Einkaufs eingeführt. Der Einkauf ist Nutzer der Digitalisierung.

Szenario 3: Einkauf als Innovator

In diesem Szenario sieht sich das Unternehmen selbst einer herannahenden Transformation unterworfen und beginnt, mit grossem personellem und finanziellem Aufwand neue digitale Geschäftsmodelle zu identifizieren und umzusetzen.
Der Einkauf wird in diesem Szenario zum strategischen Partner der Geschäftsleitung mit der Aufgabe, das künftige Wertschöpfungsnetzwerk zu gestalten, zu führen und zu optimieren. Das klassische Materialgruppenmanagement wird abgelöst und durch das Management von Kundenlösungen, bestehend aus Produkten, Dienstleistungen, Logistik und Informatiklösungen ersetzt. Die klassische Einkaufsfunktion, vermischt sich mit Logistik, Supply Chain Management und IT. So wird der Einkauf strategischer Partner der Digitalisierung.

Organisationsformen der Zukunft

Die Anforderungen an die Anpassungsfähigkeit des Einkaufs hängen von der Komplexität, das heisst von der Geschwindigkeit und der Vernetzung des Wandels ab. Je schneller sich das Umfeld ändert und je mehr Personen, Prozesse, Abteilungen oder Geschäftsbereiche betroffen sind, desto tiefgreifender wird der Wandel im Unternehmen und im Einkauf erwartet.
In einem stabilen Umfeld kann der Einkauf in seiner taktischen und konsolidierenden Funktion verbleiben. Mit zunehmender Komplexität des Wandels genügen diese Eigenschaften nicht mehr: Der Einkauf ist gezwungen, neue Organisationsformen anzuwenden, um die Transformation zu bewältigen. Praxis und Wissenschaft bestätigen, dass Organisationen in einem dynamischen Umfeld effektiver sind, wenn sie in informellen, dezentralen, evolutionären und autonomen Strukturen arbeiten können. In vielen Unternehmen ist dies jedoch (noch) nicht gegeben. Unternehmen und Einkauf stehen daher vor grossen organisatorischen Herausforderungen, wenn Sie die digitale Transformation bewältigen wollen.

 


Workshop

Die Mitglieder des laufenden Arbeitskreises Einkauf 4.0 entwickeln derzeit erste Lösungsansätze für definierte «uses cases». In einem zweiten Schritt sollen daraus die Anforderungen mit ausgewählten Technologieanbietern in konkrete Lösungspakete überführt werden.
Ab Herbst 2018 bietet procure.ch einen Lehrgang zum gezielten Aufbau von 4.0-Kompetenzen in Einkaufsorganisationen an. Mehr Informationen:
www.procure.ch/Arbeitskreis 4.0


 

Die Autoren

Referent Herbert Ruile

Herbert Ruile
ist Professor für Supply Chain Management an der FH Nordwestschweiz und Präsident des Vereins Netzwerk Logistik (VNL), der Innovationen in Einkauf, Logistik und SCM durch die Kooperation von Wirtschaft und Wissenschaft fördert.

Carsten Vollrath

Carsten Vollrath
ist Ökonom und CEO von Innovative Partners Group, einer internationalen Denk­fabrik und Management­beratung mit Schwerpunkt auf innovativen Ansätzen zur Business Transformation.

Themen und Schlagwörter