Einkaufsoptimierung in Echtzeit
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Globale Supply Chains sind heutzutage komplex und es entstehen Abhängigkeiten, sodass selbst kleine Störungen immense Auswirkungen auf die Unternehmen haben, wenn es zu Kaskaden von Störungen in der Lieferkette kommt (Ripple Effekt).
Der weltweite Chipmangel trifft beispielsweise aktuell Autohersteller und führende Technologieunternehmen besonders akut. Laut Studie der IHS Markit 2021 werden in einem Fahrzeug durchschnittlich 20 Chips von verschiedenen Zulieferern verbaut. Aufgrund der gestiegenen Nachfrage und zusätzlich negativer Auswirkung durch Covid-19 hat sich die Lieferdurchlaufzeit für diese um bis zu zwei Monate verlängert und führt damit zu Produktionsstopps und Umsatzeinbussen in Milliardenhöhe.
Den Überblick behalten
An dieser Herausforderung setzt das vom Bund geförderte Forschungsprojekt «Procurement Intelligence» an, in dem die Universität St.Gallen (HSG) und die SOLTAR AG Schweizer Unternehmen bei der Bewertung von Sourcingentscheidungen unter Berücksichtigung von Gesamtkosten (Total Cost) und Risikoaspekten (Resilience) unterstützen.
Das am Institut für Supply Chain Management entwickelte «Total-Cost-of-Resilience (TCR)»- Konzept soll dabei durch die Verwendung künstlicher Intelligenz und cloudbasierter Lösungen datenbasierte Entscheidungen in Echtzeit ermöglichen.
Die Herausforderung Schweizer Unternehmen vor allem der Maschinen-, Elektro- und Metall-Industrie (MEM-Industrie) in einem von Schnelllebigkeit und Globalität geprägten Umfeld ist es, ihre Wettbewerbsfähigkeit sicherzustellen.
In den letzten Jahren wurden sogenannte «non-value adding activities» eliminiert, die Supply Chains verschlankt, indem beispielsweise Single-Sourcing-Strategien und Lean Management betrieben werden. Die dadurch entstehenden Risiken werden in aktuellen Modellen oftmals unzureichend berücksichtigt. Entsprechend nimmt auch die Vulnerabilität in der Supply Chain zu. Viele Disruptionen und unerwartete Ereignisse erhöhen jedoch die Komplexität und führen dazu, dass Einkäufer schnell den Überblick verlieren können.
Mehr als nur Risikomanagement
Um potenzielle Risiken miteinzubeziehen, werden bei den beteiligten Industriepartnern mithilfe von «Total Cost of Ownership (TCO)»-Ansätzen Kosten ganzheitlich in Einkaufsentscheidungen wie bei der Lieferantenauswahl einbezogen. Infolgedessen werden nicht nur die Einkaufskosten berücksichtigt, sondern auch die direkten und indirekten Kosten, die durch den Einkauf und die physikalische Bereitstellung entstehen, u. a. Risikokosten. Das klassische Risikomanagement betrachtet hierbei Risiken in Form von statistischen Wahrscheinlichkeiten, das heisst die Eintrittswahrscheinlichkeit multipliziert mit den Auswirkungen. Dieses Vorgehen ist häufig ungenügend.
Eine alleinige Betrachtung monetärer Grössen ebenso wie eine Behandlung von Störungen auf Basis historischer Daten – oftmals unter Nutzung von Spreadsheet-Software –, Erfahrung und Intuition erweist sich als nicht ausreichend. Es können unerwartete Störungen eintreten, die im klassischen Risikomanagement unberücksichtigt bleiben.
Resilienzansätze erfordern dagegen im Umgang mit solchen Störungen eine Antizipation derselben sowie die Fähigkeit, dieen mit hoher Reaktionsgeschwindigkeit zu begegnen. Verfügt ein Unternehmen über solche Fähigkeiten, unerwartete Störungen zu vermeiden beziehungsweise in geeigneter Weise auf solche zu reagieren, wird das System als resilient bezeichnet. Einkäufer befinden sich in einem Spannungsfeld zwischen Kostenreduktion und Resilienzmaximierung. Das «Total Cost of Resilience»-Konzept greift diesen Trade-off auf, indem eine Kosten-Nutzen-Abwägung der Resilienz als Teil einer «Procurement Intelligence»-Software implementiert wird.
Die Operationalisierung hierfür wird in vier Schritten angegangen.
- Total Cost of Resilience (TCR): Ziel des ersten Schrittes ist es, ein TCR-Konzept zu entwickeln, wobei Kosten und Wertbeiträge der Resilienz systematisch definiert, identifiziert, evaluiert sowie selektiert werden. Anschliessend erfolgt die Integration in ein Gesamtkonzept.
- Application Programming Interfaces (API) und Web-Scraper: Eine Herausforderung bereits bestehender TCO-Lösungen ist, dass diese statisch und nur unzureichend verknüpft sind. Aus diesem Grund wird mit Schritt zwei eine cloudbasierte Lösung entwickelt, die die relevanten internen und externe Daten kontinuierlich und in Echtzeit verarbeitet.
- Machine Learning: Um zukünftige Entwicklungen sowie damit verbundene Risiken, beispielsweise durch unerwartete Preisentwicklungen, berücksichtigen und proaktive Empfehlungen aussprechen zu können, werden in Schritt drei Methoden der künstlichen Intelligenz herangezogen. Die Entwicklung eines Machine-Learning-Modells erfolgt dabei in Zusammenarbeit mit dem Institut für Wirtschaftsinformatik an der Universität St.Gallen.
- Implementierung: Schritt vier umfasst die Anwendung der entwickelten Konzepte in den Partnerunternehmen mittels Durchführung von Pilotprojekten. Dies dient zur Validierung der Ergebnisse und zur Sicherstellung der Operationalisierbarkeit. Der entwickelte Resilienzindex ermöglicht dabei ein Benchmarking historischer, aktueller und zukünftiger Resilienz. Somit kann evaluiert werden, ob die Unternehmen durch das Forschungsprojekt Resilienzverbesserungen erzielen konnten.
Mit der erfolgreichen Implementierung wird die existierende Lücke an adäquater IT-Infrastruktur für unterschiedliche Entscheidungssituationen im Einkauf geschlossen. Einkäufer profitieren nicht nur von einem automatisierten TCO-System, sondern können proaktiv die Resilienz ihrer Supply Chain erhöhen, indem ihre Schwachstellen aufgedeckt und diese entsprechend neugestaltet werden. Die realisierte Resilienzsteigerung bewirkt, dass Unternehmen in Zukunft vor unerwarteten Disruptionen wie dem gegenwärtigen Chipmangel besser geschützt sind und verhindert dadurch Produktionsstopps und Umsatzeinbussen.
Erik Hofmann
Erik Hofmann ist Direktor am Institut für Supply Chain Management sowie Titularprofessor der Universität St.Gallen. (ISCM-HSG).
Alwin Locker
Alwin Locker ist Geschäftsführer der SOLTAR AG in Zürich und als Dozent für Operations-, Einkaufs- und Supply Chain Management sowie Supply Chain Finance tätig.
Maximilian Enthoven
Maximilian Enthoven ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektmanager am Institut für Supply Chain Management (ISCM-HSG) an der Universität St.Gallen (HSG).