Einkauf im Spotlight: neue Rolle in turbulenten Zeiten?
Publiziert am
Wie hat sich das Bewusstsein um die Bedeutung und Rolle des Einkaufs bei Unternehmenslenkenden und anderen zentralen Stakeholdern in den letzten Jahren verändert?
Im Sinne der Literaturrecherche zum Thema «Stellenwert des Einkaufs» hat sich die Bedeutung des Einkaufs in den vergangenen 15 Jahren vermutlich leider wenig bewegt. Quellen aus dem Jahre 2008 zeigen ein ähnliches Bild der Ausgangslage, wie dies seit 2016 wiederholt im Rahmen der Verbandsaktivitäten belegt wird. Ganz anders präsentiert sich hier die Ausgangslage der artverwandten Disziplin Logistik. Hier hat sich die Anerkennung im Verlauf der letzten 20 Jahre deutlich gesteigert. Dies ist selbstverständlich eine Verallgemeinerung und trifft nicht in jedem Einzelfalle in diesem Masse zu.
Und wie sieht es mit Bedeutung und Rolle aus, wenn man auf die Beschaffung in den Lieferketten insgemsamt fokussiert?
Das Bewusstsein der Bedeutung der Lieferketten und damit der Beschaffung – als Oberbegriff für Einkauf und Logistik – hat sich in der Gesellschaft und damit auch im Verständnis der firmeninternen Stakeholder (CEO, CFO) noch nie in einer so prominenten Rolle wiedergefunden, wie dies aktuell im Nachgang der Pandemie um Covid-19 der Fall ist. Uns allen ist klar, was es bedeutet, wenn Lieferketten in Schieflage geraten. Hamsterkäufe, Nicht-Verfügbarkeiten und ähnliche Phänomene sind uns aktuell vertraut. Eine optimale Ausgangslage also, den Stellenwert der Beschaffung und damit des Einkaufs ins richtige Licht zu rücken und hoffentlich dort «scheinen» zu lassen.
Deckt sich das auch mit dem Bewusstsein und dem Verständnis der eigenen Fach- und möglicherweise auch Führungsrolle?
Ja und nein. Einkaufsleitende sind nach wie vor davon überzeugt, den eigenen Stellenwert firmenintern nicht dort vorzufinden, wo er hingehört. Dies ist wiederum eine allgemeine Aussage, die sich – im Sinne der eigenen empirischen Arbeit – auf die mittelgrossen Unternehmen mit 50–250 Mitarbeitenden bezieht. Die grössten Unterschiede im Sinne der Anerkennung besteht im direkten Vergleich zu Produktion und Verkauf. Dieses Phänomen tritt wiederholt in Erscheinung. Punkto «Verständnis» präsentiert sich der Einkauf eigentlich recht «selbstbewusst».
Die mittelgrossen Unternehmen mit 50 bis 250 Mitarbeitenden bilden das wirtschaftliche Rückgrat der Schweiz. Wo sollte der Einkauf denn deiner Ansicht nach hier positioniert sein?
Ich würde alle Einkaufsleitenden enttäuschen, wenn ich nicht die korrekte Lösung, nämlich die unmittelbare Einbindung in die Geschäftsleitung, vorschlagen würde. Dies nicht im Sinne einer «Erhöhung der eigenen Bedeutung», sondern im Sinne der empirischen Feststellung, dass die strategische Einbindung des Einkaufs von zentraler Bedeutung für den Unternehmenserfolg ist. In diesem Sinne ist – gerade bei dem mittelgrossen Unternehmen – eine direkte Vertretung des Einkaufs (nicht via Finanzen, Marketing oder Produktionsleitung) empfehlenswert. Heute geht hier zu viel Detailwissen verloren, was zu Fehlentscheidungen und «gut gemeinten» Lösungen führt und Energie als auch Potenziale des Einkaufs unter Wert liegen lässt. Die Festlegung der Strategie ist in jedem Falle eine Aufgabe der obersten Führung eines Unternehmens, dort gehört der Einkauf «vertreten» und angesiedelt analog dem Verkauf, den Finanzen oder auch der Logistik.
Inwiefern gilt diese Positionierung auch für Kleinstunternehmen?
Unter Berücksichtigung des Gedankenzitats unseres ehemaligen Präsidenten, Andreas Kilchenmann, über Kleinstunternehmen «[…] dort ist die Welt noch in Ordnung […]», ist der CEO in Kleinstunternehmen oft selbst für den Einkauf verantwortlich. Da braucht es diese zusätzliche Einbindung vermutlich eher weniger.
Und wie sieht es damit in Grossunternehmen und Konzernen aus?
Sobald die operativen und strategischen Einkaufsgeschäfte an eine Fachabteilung «delegiert» und überantwortet werden, sollte diese zwingend im Sinne der strategischen Entscheide eingebunden werden. Die Aussage gilt also in jedem Falle auch für Unternehmen mit mehr als 250 Mitarbeitenden. Irgendwann kommt aufgrund der Unternehmensgrösse eine «Abgrenzung» im Sinne der Organisation zum Tragen. «Grosse Unternehmen» verfügen über mehr Mittel in Form von Ressourcen wie Manpower, Skills und Finanzen und können sich eigene Fachabteilungen und Experten leisten. Dies ist bei mittelgrossen Unternehmen so nur bedingt möglich. Im Rahmen meiner Forschung habe ich mich daher auf mittelgrosse Unternehmen konzentriert. Hier gelten meine Aussagen im Sinne der empirischen Untermauerung. Umgekehrt ist sicher, der entstandene Leitfaden kann auf alle Unternehmensgrössen angewendet werden.
Welche Möglichkeiten gibt es, die Stakeholder des Einkaufs abzuholen und vom Wert der Zusammenarbeit mit dem Einkauf sowie vom Wert der Einkaufsfunktion für das gesamte Unternehmen zu überzeugen?
Diese Frage war letztlich «ein» Auslöser meiner Forschungsfrage. Im Wesentlichen geht es darum, die eigene (Einkaufs-)Leistung und deren Wertbeitrag zum Unternehmensergebnis laufend sichtbar zu machen. Dabei kommt es nur darauf an, den Sinnspruch «tue Gutes und rede darüber» offensiv anzuwenden. Eine Tugend, die dem Typus Einkäufer nur bedingt gerecht wird. Lieber konzentrieren wir uns auf unsere Leistungsergebnisse und freuen uns daran, als im Rampenlicht zu stehen und über unsere Erfolge zu berichten. Wird der Einkauf allerdings auf Unternehmensleitungsebene eingebunden und wird er gleichberechtigter Partner, so fällt es leicht, die Zusammenhänge und deren Auswirkungen auf den Unternehmenserfolg für alle «sichtbar» zu machen.
Laut Zukunftsforscher Mathias Horx hat sich die globale Just-in-time-Produktion, mit riesigen verzweigten Wertschöpfungsketten, bei denen Millionen Einzelteile über den Planeten gekarrt werden, überlebt. Einverstanden?
Ja und nein. Als persönliche Überzeugung und unter dem Eindruck der Pandemie sowie der anhaltenden Phase des «Business not as Usual» (BNAU), welche die neue Einkaufsrealität darstellt, ist eine sinnvolle Rückkehr zur Glokalisierung sicherlich wünschenswert. Horx spricht in diesem Kontext ebenfalls von der Bedeutung dieser Entwicklung. Umgekehrt besteht weiterhin eine enorme Arbeitsteilung und Spezialisierung der Weltregionen auf bestimmte Fähigkeiten, Produkte und Dienstleistungen. Dies ist so nur bedingt korrigierbar. Zudem nimmt der Preisdruck – aus nachvollziehbaren Gründen – enorm zu. Dies wird nicht zu weniger Arbeitsteilung und damit Globalisierung führen, sondern eher umgekehrt. Lassen wir, beseelt von Vernunft und Nachhaltigkeit, neue sinnvolle Wege und Gefüge finden, die eine verantwortungsvolle und ressourcenschonende – und damit vermutlich auch weniger risikoanfällige – Beschaffung erlauben. Ich bin mir bewusst, dass ich nun den «Zauber» des Wunsches mit eingefügt habe.
Wie kann der Einkauf in die Zukunft überführt werden – und innerhalb welcher Rahmenbedingungen?
Mit Blick zurück hat der Einkauf in meinem Verständnis in den vergangenen Jahren eine gewaltige und tolle Leistung erbracht. Meist hat er die Probleme recht gut gelöst. Eine Überführung in die Zukunft ist also gewiss. Die Rahmenbedingungen im Sinne von BNAU sind alles andere als klar. Die Realität aber zeigt: der Einkauf hat es bisher geschafft und wird auch die weiteren Veränderungen meistern. Es gilt einfach darauf zu achten, die aktuellen «Gebote der Stunde» – Nachhaltigkeit, Risikomanagement und Digitalisierung – sinnvoll abzuwägen und im Sinne der jeweiligen individuellen Ausgangslage rechtzeitig zu implementieren. Schnelle und anpassungsfähige Einkaufsteams mit gut ausgebildeten Persönlichkeiten – gerne strategisch gut verankert und intern vernetzt – dürften dazu beitragen.
Ist der Einkauf bereit und auch in der Lage, eine Lead-Funktion bei der Steuerung und Erfüllung der sich unaufhaltsam verändernden Erwartungen und Vorgaben zu übernehmen?
Natürlich. Die Gründe, warum das so ist, habe ich bereits erwähnt. Kommt noch dazu, dass der Einkauf punkto Innovation und Substitution an der Quelle sitzt, sich also laufend mit den (Zu-)Lieferanten auseinandersetzt. Eine selbstkritische Frage würde hier lauten: «Ist der Einkauf unter der Last des Alltags in der Lage, die nötige Agilität, das erforderliche Know-how im Umgang mit internen und externen Anspruchsgruppen zusätzlich zu meistern?» Zusätzliche erforderliche Skills (Stand heute) werden Projektmanagement, Umgang mit Digitalisierung und grosse Datenmengen sowie soziale Verantwortung (rechtlich wie moralisch) sein.
Neue Sachverhalte werden andere Prioritäten und Massnahmen fordern. Ich bitte um einen Blick in die Kristallkugel – was bedeutet das für den Einkauf?
Die gesetzlichen, noch mehr aber die «moralischen» Vorgaben der Gesellschaft werden vermehrt existenzielle Folgen haben. Es geht darum, Wertvorstellungen und Bedürfnisse zu erkennen und aufzunehmen, Vorgaben und Erwartungen dazu «vorweg» zu nehmen und umfassend zu erfüllen. Gelingt dies nicht, wird das für die betroffenen Unternehmungen rasch existenziell. In diesem Sinne wird Risikomanagement inklusive Nachhaltigkeit zu einer unerlässlichen Einkaufsaufgabe. Dasselbe gilt kurzfristig wieder für uns (als Einkaufsverantwortliche) längst bekannte «alte» Themen. Sowohl die vorhandenen Lagerbestände aus der Pandemie-Zeit und das damit gebundene Kapital als auch die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen (Inflation, Preisentwicklung, Wechselkurse) führen zum Bedarf der ursprünglichen Einkaufsaufgaben als Pflichtfaktor für den Unternehmenserfolg. Kurzfristig erleben also «Kostenoptimierungen» ein Revival. Gleichzeitig können wir aber die Digitalisierungsthemen (mit Auswirkung sowohl auf Geschwindigkeit, Kostensenkung, Qualität, Optimierung der Bestände als auch der Preise usw.) nicht vernachlässigen. Dieses Thema ist – gerade bei mittelgrossen Unternehmen – erkannt, aber spärlich bedient. Zu guter Letzt vergessen wir nicht die neuen Anforderungen an die Einkäuferinnen und Einkäufer der Zukunft im Sinne von deren Fähigkeiten. Da wandelt sich einiges.
Und wie sieht es in punkto Fachkräftemangel aus?
Der aktuelle Fachkräftemangel führt zu einer Verknappung der Berufsleute. Hier gilt es, Quereinsteigenden einen Zugang zu gewähren und den Start zu ermöglichen, indem sie das nötige Rüstzeug parallel zur Arbeit erwerben können.
Angesichts einer wohl auch künftig nicht weniger volatilen Wirtschaftswelt, in der die pünktliche Verfügbarkeit von Waren in vereinbarter Qualität und Nachhaltigkeit entscheidend ist – welche Strategien sollten mittelgrosse Unternehmen in Bezug auf Risikomanagement, Automatisierung und Sourcing verfolgen?
Die Beantwortung dieser Frage bleibt letztlich individuell. Das von mir erarbeitete «Aarauer Agilitätsmodell für den Einkauf bei mittelgrossen Unternehmen» kann hier eine sinnvolle und gute Standortbestimmung bieten. Ich empfehle dies in jedem Falle individuell und unter Einbezug der internen Profis zu tun.
Dann lass es uns verallgemeinern. Wie würde denn eine Empfehlung deinerseits lauten?
Erstens empfehle ich, das Risikomanagement bewusst wahrnehmen. Eine Übersicht erstellen, welche Risiken vorhanden sind, und welche man als Unternehmung tragen will und kann. Wo dies nicht der Fall sein soll, entsprechende Massnahmen definieren und ergreifen. Hierbei das umfassende Thema «Nachhaltigkeit» zentral beleuchten (laufende gesellschaftliche und rechtliche Entwicklungen beachten).
Ein «Erstens» verlangt immer nach Folgepunkten ...
Genau. Das «Zweitens» wäre die Einbindung des Einkaufs in die strategische Unternehmensführung. Vermeidung von Wissensverlust zugunsten übergreifender Partizipation der Fachabteilungen (nicht nur Einkauf).
Noch ein dritter zentraler Punkt?
Drittens empfehle ich, die Digitalisierung als Thema zu definieren, aufzunehmen und sowohl die eigene Position dazu als auch die Möglichkeiten zu klären. Der Einkauf sollte hier eine eigene Rolle spielen und nicht auf Druck von aussen (Top down oder anderen Bereichen) warten.
Was bedeutet all das Erwähnte für das Sourcing?
Das Sourcing als solches dürfte via «erstens» und «zweitens» gut gelöst und in ein neues Licht gerückt werden. Die «Sicherheit» der Lieferquellen ist elementar. Gleichzeitig aber auch abhängig von kommenden Regelungen und Entwicklungen. Daher dürften Themen wie redundante Lieferanten, Dualsourcing, Globalisierung versus Glokalisierung im Rahmen einer umfassenden Risikoanalyse eine individuell passende Beurteilung und Lösung erhalten. Zudem kann ich aus empirischer Betrachtung festhalten, dass die mittelgrossen Unternehmen gerade im Sinne des Sourcings durchaus eigene Strategien besitzen. So ist «europäische» wie auch «schweizerische» Beschaffung trotz oftmals höherer Preise zugunsten einer Verlagerung der Beschaffungsrisiken sowie der garantierten Qualität und Serviceleistungen gebräuchlich.