Die Pandemie – und ihre Konsequenzen für den Einkauf
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Die Coronapandemie hält uns seit Monaten in Atem. Der Einkauf als Schnittstelle zum Lieferantenmarkt war mit den Auswirkungen auf die globalen Lieferketten massiv betroffen und wurde zur Chefsache.
Drei Phasen der Coronakrise
Die Coronakrise kann für Unternehmen grob in drei verschiedene Phasen aufgeteilt werden:
- Der «Supply Shock», bei dem die Verfügbarkeit von Materialien zunächst aus China stark eingeschränkt war. Laut WEF (World Economic Forum) ist China für 28 Prozent der weltweiten Produktion verantwortlich. Selbst wenn die direkten Lieferanten nicht aus China stammen, nutzen diese häufig Komponenten aus der asiatischen «Fabrik der Welt». Der Einkauf war gefordert, einen ständigen Überblick über die Lieferfähigkeit der Lieferanten zu haben. Das Suchen nach Alternativlieferanten sowie ein Lageraufbau des Sicherheitsbestandes dominierten diese erste Phase.
- Der «Demand Shock», der für gewisse Produkte und Materialien einen Nachfrageboom ausgelöst hat. Die weltweiten Lockdowns haben zu erhöhten Bedarfen in einigen Branchen geführt, wie im Lebensmitteleinzelhandel, bei der Konsumelektronik oder bei Hygieneartikeln. Migros, Coop und Logitech beispielsweise musste ihre Lieferkapazitäten erhöhen. Weiterhin galt es, den Peitscheneffekt sich aufschaukelnder Nachfrage abzuschätzen, um keine Überversorgung oder Überbestände zu generieren.
- Der «After Shock», bei dem die Planungen und Prozesse wieder zur «Normalität» zurückzuführen sind und die Lehren aus den Vormonaten genutzt werden. In dieser Phase befinden wir uns aktuell und es beschäftigt Einkaufsverantwortliche die Frage, welche Konsequenzen im Einkauf mittelfristig zu erwarten sind.
Verstärktes Risikomanagement
Das Risikomanagement der Supply Chain wird sich zukünftig nicht nur auf die direkten Lieferanten «Tier 1» sondern auch auf deren Zulieferer erstrecken. Die globalen Lieferketten und deren Abhängigkeiten gilt es zu verstehen und die möglichen Auswirkungen von Unterbrüchen zu bewerten. Mit Methoden des Supply Chain Mappings können die aktuellen Lieferketten und deren Alternativen inklusiv Times to Recovery, Costs of Recovery aufgezeigt werden. Unternehmen wie die Swisscom oder die Automobil-OEMs wie Daimler, BMW und VW analysieren heute schon mehrere Lieferantenstufen. Laut McKinsey hat ein OEM rund 250 direkte Lieferanten «Tier 1» aber cirka 18 000 «Tier 2+» Lieferanten.
Total Cost of Resilience
Die Forderungen nach mehr lokaler Wertschöpfung sind aufgrund der Erfahrung der Verletzbarkeit globaler Lieferketten nachvollziehbar. Ob ein Trend von globalen zu regionalen Supply Chains einsetzen wird, hängt stark vom Total-Cost-Vergleich ab. Total Cost of Ownership-Modelle, die auch die Resilience beziehungsweise Widerstandsfähigkeit des Sourcing berücksichtigen (Total Cost of Resilience) werden zukünftig eine grössere Bedeutung in Sourcing- und Lokalisierungsentscheidungen einnehmen, statt dass vor allem auf den günstigsten Einkaufspreis in Niedriglohnländern geschaut wird. In globalen Lieferketten machen die Zusatzkosten nicht selten 30 bis 50 Prozent des Einkaufspreises aus!
Digitale Steuerungsprozesse
Die Transparenz von Bedarfen, Kapazitäten und Verfügbarkeiten ist der Erfolgsfaktor Nummer eins für schnell angepasste Massnahmen in Krisenzeiten. Sie ist auch der wichtigste Erfolgsfaktor, um den Peitscheneffekt in Supply Chains beherrschbar zu machen – ganz vermieden werden kann er nicht. Unternehmen, die in das IT-gestützte Online-Datenmanagement investiert hatten, waren klar im Vorteil. Amazon und Digitec haben beispielsweise Marktanteile gewinnen können, da sie ihre Supply Chain vollständig digitalisiert haben. Die integrierte Planung mit durchgängigen Informationsflüssen – auch unternehmensübergreifend mit Kunden und Lieferanten – ist zukünftig der Schlüssel für Agilität und Flexibilität. «Plans are nothing – planning is everything», formulierte schon Dwight Eisenhower.
Automatisierung und Erfahrung
Das Erfahrungswissen der Mitarbeitenden ist in Krisenzeiten unersetzbar. Die Automatisierung von Prozessen kann beschleunigend wirken, doch die Priorisierungen im Tagesgeschäft brauchen das Know-how von erfahrenem Personal. Eine Fortschreibung von Vergangenheitswerten bei einem Supply- beziehungsweise Demand Shock führt sonst zu Blind- und Fehlleistungen. Just-in-Time-Anlieferungen und Vendor-Managed-Inventory-Ansätze mussten ausgesetzt werden. Es galt – wie Nassim Taleb es nennt – die Fähigkeit der «Antifragilität» zu nutzen, das heisst mit Unsicherheit umzugehen, etwas anzupacken, ohne es komplett verstehen zu können. Viele Unternehmen berichten, dass gerade dieser Teamgeist in der Krise eine sehr produktive Zusammenarbeit ermöglicht hat – und das auch von zu Hause aus!
Nachhaltigkeit und Kooperationen
Partnerschaften mit Lieferanten, die eine offene Kommunikation und eine Win-win-Kooperation ermöglichen, wirken besonders in Krisenzeiten stabilisierend. Die finanzielle Unterstützung von grundsätzlich gesunden Lieferanten durch schnellere Zahlungen, Vorauszahlungen oder Supply-Chain-Finance-Programme ermöglicht diesen auch zukünftig Innovationen und Nachhaltigkeit in ihren Produkten, Services und Prozessen. Roche hat für Lieferanten, die sich speziell für die Geschäftskontinuität eingesetzt haben, einen speziellen Preis lanciert, der am Roche-Lieferantentag verliehen wird.
An der Coronatagung am 3.November wollen wir «Learnings» aus der Krise austauschen und die «Take aways» für den Einkauf 2021+ diskutieren. Kommen Sie vorbei und teilen Sie Ihre Erfahrungen und Meinungen mit uns! •
Alwin Locker
Der Autor ist promovierter Wirtschaftsingenieur. Alwin Locker ist Geschäftsführer der SOLTAR AG in Zürich und ist auch als Dozent für Einkauf bei procure.ch tätig. Er moderiert die Tagung «Corona – Konsequenzen für den Einkauf».