Die neue Isolation – oder wo sind denn all die Leute hin?
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Wir stehen vor einem Rätsel. Der Personalmangel in allen Branchen ist grösser denn je. Klar fehlen Fachkräfte, aber auch die Gastro sucht händeringend nach Personal. In der Pflege gäbe es einfache Jobs en masse. Gleichzeitig beträgt die Nettozuwanderung seit Beginn der Corona-Pandemie etwa 150 000 Menschen. Wo sind die alle, wie geht das zusammen? Mit der fehlenden oder falschen Ausbildung erklärt man nur einen kleinen Teil des Rätsels.
Die einzige Erklärung ist, dass sich die Menschen nicht mehr so engagieren wollen wie vor der Pandemie. Es gibt eine Tendenz zum radikalen Egoismus, ein Rückzug ins Private. Dies betrifft Vereine, die keine freiwilligen Helfer mehr finden, deutlich aber auch die Erwerbsarbeit. Hinter vorgehaltener Hand bestätigen einem dies alle, die Leute einstellen wollen: Kandidaten für eine Stelle wollen viel Homeoffice, viel Ferien, hohe Löhne, aber relativ wenig Verantwortung. Jede einzelne Handlung wird peinlich genau nach Aufwand und Ertrag beurteilt, nur was sofort ein deutliches Plus aufweist, wird gemacht. Da hat ein Arbeitgeber mit unbefristeten Stellen schlechte Karten.
Es sind zwei Erfahrungen aus der Pandemie, die zu diesem Trend führen. Erstens das Schlaraffenlandphänomen: Niemand hat während der Lockdowns gearbeitet, die allumfassende Güterversorgung war dennoch sichergestellt. Dass dieser Konsum mit einer massiven Ausweitung der Geldmenge erkauft wurde, kann dem Einzelnen egal sein. Er sieht nur, dass die Erwerbsarbeit gar nicht entscheidend ist für die Sicherung des Lebensstandards. Und dank des sensationell starken Frankens ist das auch lange gut gegangen.
Nun kommt die Teuerung und wir zahlen die Rechnung.
Der zweite Einflussfaktor sind die Streitereien über Massnahen und Pandemie. Viele haben (auch nur in Nuancen) abweichende Meinungen als feindlich wahrgenommen. Was macht ein Mensch, der sich einer feindlichen Umwelt gegenübersieht und sich gleichzeitig kaum um die materielle Versorgung kümmern muss? Er kapselt sich ab.
Die Isolation ist ein Schutzmechanismus, der jetzt als (unnötige) Panzerung bestehen bleibt. Es gilt, diese aufzubrechen, denn sie führt in eine Sackgasse. Man will sich vor der bösen Welt schützen, die totale Kontrolle über sein Leben behalten. Wer es aber versäumt, sein soziales Umfeld mitzugestalten, wird hilflos von der Gesellschaft fortgespült, wenn die eigenen vier Wände dann doch mal verlassen werden müssen. Es wirken unkontrollierbare Kräfte, man wird degradiert zum Statisten im eigenen Lebensfilm.
Laut dem Philosophen Ludwig Hasler ist es das Mindeste, was der Mensch an Selbstachtung aufbringen soll, im eigenen Leben die Hauptrolle zu spielen. Dazu braucht es ein Umfeld, dass man mitgestaltet. Dass man sich auch mal von Menschen «challengen» lässt, die abweichende Meinungen oder Lebensstile haben. Die Arbeitssituation bringt diese Herausforderung, weil man die Kontakte weniger genau auslesen kann wie in der Freizeit. Es braucht einen Ruck, das Herz wieder zu öffnen, anderen wohlwollend zu begegnen und sie als Bereicherung zu empfinden. Diese aktive Rolle, die das Menschsein erst ausmacht, bedingt den Einsatz von Energie.
Ich bin überzeugt, dass es langfristig glücklicher macht, sich wieder zu engagieren und ein kleines bisschen an unserer Gesellschaft mitzubauen.
Roland Wirth
Der promovierte Volkswirtschaftler gibt hier Denkanstösse zum wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel. Er ist Geschäftsführer und Rektor der Kaderschule Zürich, der Anbieterin des PWA-Wirtschaftsprogramms und der Lernplattform elob.