Das Mindset bestimmt den Beschaffungserfolg
Publiziert am
Nach über zwei Jahren Pandemie befinden sich die Preise bestimmter Komponenten und Rohstoffe auf absurden Preisniveaus. Zur Absicherung der Lieferfähigkeit wird derzeit fast jeder Preis toleriert, denn eine Nichtbelieferung käme auf Dauer noch viel teurer. Wohl den Branchen, die ihre Preissteigerungen an den Kunden weitergeben konnten.
Jahrelange Verhandlungserfolge sind damit innerhalb weniger Monate evaporiert. Mitunter wird die Verknappung in Teilbereichen inzwischen opportunistisch künstlich am Leben gehalten, da es bisher selten so
einfach war, die Preise in astronomische Höhen zu treiben. Es bleibt abzuwarten, ob manche Lieferanten nach der anstehenden Berichtsperiode bezüglich überraschend positiver Gewinnausweise ihren Kunden Rechenschaft ablegen müssen.
Jedes Unternehmen muss seine Strategie entwickeln, mit Knappheit, hohen Preisen und langen Lieferzeiten umgehen zu können. Neben dem regulären Produktportfolio geraten insbesondere anstehende Neuprodukte durch unsichere Ramp-up-Anläufe und Kostenturbulenzen unter Druck.
Ein Ansatz wäre, sich ressourcenseitig in den kommenden Monaten nicht primär um die Besetzung des x-ten Marktsegments mit neuen Produktvarianten zu kümmern, sondern auf die Substitutionsfähigkeit knapper Komponenten als existenzieller Innovationstreiber im Unternehmen zu fokussieren. Damit werden Optionen geschaffen, sich aus der Abhängigkeit der Knappheit und des Preisdiktats zu befreien.
Wandel des Mindsets
Höchster Lieferdruck, enormer persönlicher Ressourceneinsatz unter zunehmender Dynamik und unberechenbarer Turbulenz der Liefermärkte erfordern das Eingehen von dosierten, kalkulierbaren und vertretbaren unternehmerischen Risiken. Spätestens jetzt muss man sich lösen von Abteilungsforderungen aus Zeiten des Komforts und einer «Gürtel und Hosenträger»-Mentalität hin zu agiler Prozessorganisation mit Bündelung aller Kräfte auf den Zweck der Lieferfähigkeit.
Anstatt sequenziellem Abarbeiten von Aufgabenpaketen werden verschiedene Szenarien durch Taskforces, die sich durch Verantwortung und Leadership aller Mitglieder auszeichnen, bereichsübergreifend definiert. Dabei steht die gemeinsame Ausarbeitung und Simulation im Vordergrund, woraus die Handlungsstränge abgeleitet und synchronisiert werden.
Weg von endlosen E-Mail-Kaskaden mit prominenten Verteiler-Zirkeln zur Eigenabsicherung aus Zeiten des Protokollismus hin zu einer Ticket-Plattform mit Zugriff aller Berechtigten zu sämtlichen relevanten Informationen – Start-up-Mentalität anstelle eines Vollständigkeits-Dogmas. Damit ist aber keineswegs kopfloses Reagieren, Hazard-Attitude oder All-in-Gehabe gemeint, sondern genau das Gegenteil. Kompetenz – verstanden als Produkt aus Wissen und Erfahrung – ist zwingend notwendig, um einerseits verschiedene Handlungsoptionen überhaupt identifizieren und andererseits deren potenziellen Folgen und Wechselwirkungen entsprechend bewerten zu können.
Kühler Kopf und Kommunikationsfähigkeit sind elementare Mittel, der Organisation zu vermitteln, wie und warum man jahrelang selbst propagierte, tradierte Prozesspläne verwerfen und stattdessen neue Wege oder Ansätze beschreiten muss. Hier zeichnet sich ein Dilemma ab: Die Kompetenz liegt häufig bei den langjährigen Mitarbeitern und Führungskräften, die lange Zeit um Definition bestimmter Prozesse gerungen haben und nun der Organisation erklären müssen, warum genau diese Prozesse oder Prinzipien vorübergehend ausser Kraft gesetzt werden sollen. So manche Person oder Organisation muss hier plötzlich über einen langen Schatten des Egos springen. Wohl dem, der in einer change-affinen Unternehmenskultur daheim ist; die anderen wird der Change mit voller Wucht vor unbequeme Anforderungen stellen.
Value Co-Creation
Das Konzept der Value Co-Creation im Einkauf hat sich gerade in der Pandemie als enorm wettbewerbswirksamer Ansatz bewährt: Mit dem Blick auf das gesamte Wertschöpfungssystem der Supply Chain wird über interne und externe Organisationsgrenzen hinweg Mehrwert geschaffen.
In Zeiten global fehlender Komponentenverfügbarkeit werden unter anderem Anfragen neuer Kunden bei der Zuteilung von begrenztem Output nicht berücksichtigt oder es herrscht Misstrauen gegenüber Produktqualität aus bisher unbekannten Lieferquellen.
Das Unternehmen Hoval hat im Value Co-Creation-Ansatz diverse Taskforces als Informations- und Beschaffungshubs eingerichtet: Ein an Komponenten notleidender Lieferant meldet Hoval die benötigte Menge und Spezifikation. Hoval prüft als Drehscheibe der Informationen mit anderen ausgewählten,
langjährigen Lieferanten in einem «Beschaffungshub» die Verfügbarkeit der gemeldeten Komponenten innerhalb deren Lagerbestände bzw. zuverlässigen Lieferquellen.
Im Idealfall deckt ein Lieferant nicht nur seinen eigenen Bedarf, sondern auch die Bedarfe für andere Lieferanten in der Hoval-Supply-Chain gleich mit ab. Sollte das nicht möglich sein, treibt das Beschaffungshub mittels Requalifizierungs-Projekten den Einsatz alternativer Komponenten in geeigneten Baugruppen. Die dadurch frei werdenden Komponenten bei dem einen Lieferanten werden anderen notleidenden Lieferanten angeboten, um die Lieferfähigkeit für die Hoval-Supply-Chain insgesamt aufrechtzuerhalten. Hoval hat dabei jederzeit den Lead über die Austauschaktivitäten.
Dieser Ansatz stellt die Lieferanten vor neue Herausforderungen: Ausserhalb des gewohnten Rahmens werden jetzt mit dem Kunden Hoval zusätzliche Daten wie beispielsweise interne Spezifikationen, effektive Produktionslagerbestände oder Komponenten-Reichweiten ausgetauscht und verschiedene Produktions- und Belieferungsszenarien ausgearbeitet. Das setzt ein entsprechendes Mindset in Bezug auf Vertrauen, Kooperationswillen und persönlichen Ressourceneinsatz voraus – It takes two to Tango.
Strategischer Differenzierungsfaktor
Natürlich kann und will nicht jeder Lieferant diesem Ansatz zustimmen. Es braucht viel Vertrauen, Mut und ein gemeinsames Mindset. So profitieren alle Teilnehmer durch Zugriff auf bisher unbekannte, aber durch Erfahrung anderer Teilnehmer zuverlässig erwiesene Lieferquellen.
Auf diese Weise werden Unsicherheiten, Zeitverluste und Kosten deutlich reduziert. Lieferanten erhöhen ihre Wettbewerbsfähigkeit und verlängern signifikant ihren Lieferanten-Lebenszyklus innerhalb der HovalSupply-Chain.
Vadim Tcharnetsky
Der Autor ist promovierter Betriebswirt, Univer-sitätslektor an der Universität Klagenfurt und eidgenössisch diplomierter Einkaufsleiter. Seit November 2018 ist er Agility Projects Leader bei der Hoval Gruppe. Davor war er bereits viele Jahre im strategischen Einkauf tätig, unter anderem bei Oerlikon, Hilti und Philips.